(Mehr so...Tagebuchkram heute. Nicht lesenswert.)
„Ich
lieb ein pulsierendes Leben
das prickelt und schwellet und quillt,
ein ewiges Senken und Heben,
ein Sehnen, das niemals sich stillt.
(Rainer Maria Rilke – Aus: Ich lieb
ein pulsierendes Leben)
13.07.2017
Lieber P.,
ich versuche mir vorzustellen, wie das ist, nie
wieder mit dir zusammen wirre Dinge auf Leinwände zu schmieren, Farbbomben zu
werfen, Fernseher zu zweckentfremden. Denke daran, wie es war, mit dir
gemeinsam erwachsen zu werden. Demonstrieren zu gehen. Uns gegenseitig Blumen
ins Haar zu stecken, im Regen zu tanzen und bei Gewitter auf der Wiese zu
sitzen. Gemütlich Rotwein zu trinken und lachend dem Regen die Nase zu zeigen.
In Freibäder einzubrechen, im Morgengrauen Hirsche zu begrüßen oder zweihundert
aneinandergebundene, leuchtende Teelichter in den See zu entlassen.
Ich denke an deine Hände auf
meinem Kopf, die immer so grobmotorisch waren. An deine Sorge um mich und deine
liebevollen Augen. Daran, dass du lange Zeit ein Zuhause für mich warst. Wie
ich dir im Winter einen Blumenstrauß aus zusammengeflochtenen Strohhalmen
geschenkt habe, weil ich kein Geld für Blumen hatte. An dem Tag, an dem ich zu
dir nach Hause getrampt bin, um dir einen einzelnen Luftballon an den
Briefkasten zu binden. Für ein Lächeln. Oder daran, dass du mich die Liebe zum
Kaffee gelehrt hast.
Ich entsinne mich unserer nächtelangen
Diskussionen. Mit Whisky. Und manchmal Zigarren. Denke an den gelben Strickpullover, den du anhattest, als ich dich kennengelernt habe. Daran, wie du
das Gras mit dem Staubsauger bearbeitet hast, um die Wiese von den Scherben
unserer Weinflaschen zu befreien. An die Tage im Kinderplanschbecken mit dem Selbstgebrannten.
An die Gedichte, die du mir geschrieben hast. Und ich dir. Ich habe sie alle
aufgehoben. In zahlreichen Ordnern säuberlich abgeheftet. Wir hatten so viele
Pläne. Haben „Utopia“ von Thomas More umgeschrieben, von einer Luftballonfabrik
und einem wilden, ungezügelten Leben geträumt. Wir haben gebrannt. Miteinander
und für das Leben. Kannten die vielen Abgründe des jeweils anderen. Und mochten
uns trotzdem.
Ich denke an die vielen kleinen Zettel, die wir
uns geschrieben haben. An Hesses Stinkefinger. An guerilla
gardening. An das Headbangen und die Nackenschmerzen am nächsten Morgen. An
unser Lied. Daran wie du nach einem langen Wochenende, im Auto sitzend, den
Sekt ausgetrunken hast und über mich lächeln musstest, weil ich nicht aufhören
konnte zu weinen. Vor Freude über das schöne und viel zu kurze Wochenende.
Mit dir zusammen habe ich mich frei gefühlt. Ich frage mich, wie viele Kilometer du während unserer Freundschaft wohl zu Fuß
zurückgelegt hast, um mich zu sehen. Sehe vor mir, wie wir die nackte Frau auf
der Leinwand mit den buntesten Farben übermalt haben. Wie du dich, natürlich
voll bekleidet, lachend in den Springbrunnen gelegt hast. Wie ich dich versucht
habe zu zeichnen. Und immer wieder darüber verzweifelt bin, dass ich es einfach
nie hinbekommen habe. Ich vermisse unsere politischen Gespräche. Unsere
Problemanalysen. Unsere grenzenlose Loyalität und Ehrlichkeit zu einander. Dein
schiefes Grinsen, das du aufgesetzt hast, wenn du mal wieder eine deiner
verrückten Ideen hattest, wie etwa den Ast mit der Post zu verschicken, damit
der alte Baum in der Fußgängerzone nicht mehr so einsam sein muss.
Ich erinnere mich an den ersten Satz, den du
jemals zu mir gesagt hast. An die Provokation, die Nähe, das Vertrauen, die
Angst. Daran, dass uns nie jemand verstanden hat. Und daran, dass du so ein
komischer Mensch warst. Einer, der seinen Geburtstag nicht toll findet. Der
irgendwie einen liebenswerten Spleen hat. Und eine bewegte Vergangenheit. Ich
denke daran, wie wir durch den Schnee gerannt sind. Barfuß. Wild schreiend.
Daran, wie wir die Fahne von dem Fahnenmast der Parteizentrale geklaut haben. Am
helllichten Tag. Wie wir zwischen lauter kleinen Menschen rodeln waren. Das
Leben genossen haben. Daran, dass wir anders sein wollten. Mehr wollten. An
Möglichkeiten und an Leben, voneinander und einfach überhaupt. Wir haben es nie
geschafft, miteinander Silvester zu feiern. Dafür haben wir jeden anderen Tag all dieser Jahre genutzt, an denen wir einander sehen konnten. Um Mensch zu sein. Und Kind.
Und ernsthaft und traurig und wütend und fröhlich und aufgeregt und albern und
kindisch zu sein. Alle Farben des Lebens genießend. Wir waren unbesiegbar. Du
warst – und bist – einmalig.
Und dennoch, mein lieber Freund, verändern sich
Menschen. Sie werden erwachsen und lernen dazu. Auch bei uns beiden hat sich
vieles geändert. Unser Alltag, unsere Lebenseinstellung, unsere Haltung zu uns
selbst und nicht zuletzt unsere politische Meinung. Weißt du, ich kann mich
sehr gut an unser allerletztes Telefonat erinnern. Du hast dich mir anvertraut,
hast mir erzählt, dass du dir das Leben nehmen willst. Und ich saß auf dem
kalten Fliesenboden meiner Küche, hunderte von Kilometern von dir entfernt,
handlungsunfähig und hilflos. Weinend. Mein Opa war gerade verstorben, mein
Vater nach schwerer Krankheit in der Reha, ich inmitten eines eigenen Ärztemarathons
und kurz vor Fristabgabe der Masterarbeit. Egal, was ich in diesem Telefonat anführte
– Trost, Wut, Zuversicht – du hast ausnahmslos alles abgebügelt. Sogar meine
Drohung deine Mutter und die Polizei anzurufen. Nach diesem Telefonat konnte ich
einfach nicht mehr. Hatte keinerlei Kraft mehr über. Also bin ich
untergetaucht. Von einen Tag auf den anderen. Wie der hinterletzte Arsch habe
ich dich sitzenlassen. Ohne es vorher anzukündigen oder auch nur eine Andeutung
fallenzulassen.
Aber ich habe dich nicht verlassen, weil du im vollen Bewusstsein meine größte
Schwäche gegen mich verwendet und mich in deine Selbstmordpläne involviert
hast. Du wusstest, wie sehr ich unter dem Selbstmordversuch von Ephraim
gelitten und mich über Jahre schuldig gefühlt habe. Es spielt nicht einmal eine Rolle,
dass du mein Vertrauen missbraucht und versucht hast, mich zu manipulieren. All
das ist in Ordnung, ich lebe ja noch.
Gegangen
bin ich, um dich aufzuwecken.
Mir ist
bewusst, dass ich dir mit meinem Abwenden das letzte genommen habe, was dir
etwas bedeutet hat: Mich selbst. In der Hoffnung, dass du dadurch wieder auf
die Füße kommst und dein Leben in die Hand nimmst. Nur du konntest dafür
sorgen, dass es dir besser geht. Und ich habe mir so sehr gewünscht, dass du es
lernst, dafür Sorge zu tragen. Dass du damit beginnst, auf dich aufzupassen und
für dein eigenes Glück die Verantwortung zu übernehmen. Du weißt es nicht, weil
ich es dir nie gesagt habe, aber ich habe dich nie so alleine gelassen, wie du
glaubst. Ich habe immer aus der Ferne auf dich geachtet, wusste immer, wo du
steckst und war stets bereit, dir doch eine Hand zu reichen, wenn es nötig gewesen
wäre.
Das
letzte Mal hast du mich im November angerufen. Wie auch die unzähligen Male
davor, bin ich nicht ans Telefon gegangen. Deine SMS habe ich aber erhalten. Ich
kann deine Wut auf mich verstehen. Trotzdem finde ich keinen Weg mehr zu dir
zurück. Um mich dir zuzuwenden, müsste ich dir verzeihen und bereit sein, dir
wieder zu vertrauen. Aber ich glaube nicht, dass ich das kann. Ich habe all
mein Vertrauen in dich an einem einzigen Tag verloren. An dem Tag, an dem du das
Wort „Selbstmord“ ausgesprochen hast und bereit warst, mich hier mit einem
Haufen Scherben allein zurückzulassen.
Bitte glaub nicht, dass ich dir böse bin, wegen
all dieser Dinge, die geschehen sind. Das bin ich nicht. Ich bin, im Gegenteil,
dankbar dafür, dass ich dich kennenlernen durfte. Wenn ich an dich denke, ist
mein Kopf voll mit wunderbar bunten, rebellischen, verrückten, aber vor allem intensiven Erinnerungen, von
denen ich keine einzige missen möchte. Ich hoffe, dass du weißt, dass ich dich
noch immer vermisse. Und vermutlich immer vermissen werde. Aber die Gefahr, dass
ich dich ein zweites Mal verlieren könnte, ist mir einfach zu groß. Dieses
Risiko kann ich nicht eingehen. Bitte hab Nachsicht mit mir.
Ich bin froh, dass du am Leben bist. Das ist, was
für mich wirklich von Bedeutung ist.
Und ich wünsche dir, von ganzem Herzen, dass du glücklich bist.
Dein Muschelmädchen
Durchaus lesenswert, weil es großherzig ist und warm. Und weil es so ein Moment ist, wo man den Arm um jemand legt, die Klappe hält und auf das Meer schaut.
AntwortenLöschenIch habe diesen Kommentar schon heute Morgen gelesen und er hat sich genau richtig angefühlt. Dankeschön, liebe Miss Whimsy.
Löschenmal abgesehen von dieser unglaublichen schreibe, die mich in den bann zieht, eine sehr intensive erinnerung an die vergangenheit. menschen treten ins leben und dann gehen sie auch wieder...die wenigsten bleiben. so ist das leben.
AntwortenLöschen@Würfelzucker: Wahre Worte. Ich denke mir oft, dass die meisten Menschen aus einem bestimmten Grund in mein Leben treten (vielleicht kann und will ich da aber auch nur nicht an Zufall glauben). Dann reisen wir ein paar Stationen gemeinsam... und irgendwann steigt meist einer von uns aus dem Zug...
LöschenDankeschön!
LöschenObwohl sich das Blatt heute völlig unvorhersehbar gewendet hat, mag ich das einfach so stehen lassen. Menschen kommen und gehen, so ist das Leben. Das ist wahr. Aber manche Menschen verdienen es vielleicht auch, dass man sie festhält. Auch wenn sie Fehler machen.
naja...in meinem leben haben sich zwei menschen aus der vergangenheit wiedergefunden...einer scheint jetzt zu gehen...und die anderen zwei sind geblieben...egal....wie auch immer...es hat sicher seinen grund....
AntwortenLöschenJa, es hat sicher seinen Grund. Aber man weiß auch nie, ob jemand für lange geht. Aber egal, ob er es tut oder nicht, ich glaube, man sollte die schönen Erinnerungen festhalten.
Löschen