Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von der virtuellen Nähe

Am frühen Nachmittag vibriert mein Handy und zeigt eine SMS einer mir unbekannten Nummer an.
"Bist du das noch immer, Muschelmädchen. Oder bist du es nicht mehr?", steht da.
Für ein paar Minuten bin ich ziemlich verwirrt. Mir fallen diverse Personen ein, von denen die Nachricht kommen könnte. Der Stalker, um den es in den vergangenen Monaten sehr ruhig geworden ist, eine alte Partybekanntschaft und nicht zuletzt denke ich sogar an Ephraim, obwohl ich versuche, diesen Gedanken ganz weit wegzuschieben.
Nachdenklich schreibe ich zurück:
"Wenn du mir verrätst, wer du bist, sage ich dir, ob ich es bin."
Anschließend grinse ich in mich hinein.
Es dauert keine Minute, bis sich mein Handy wieder meldet.
"Ich suche ein ganz bestimmtes Muschelmädchen.", steht in der nächsten SMS.
Und ich gebe zu, dass ich bereits an diesem Punkt ahne, wer es ist, der mir da schreibt. Allerdings sitzt mir der Schalk im Nacken und ich bin noch nicht bereit, mich als die Gesuchte zu offenbaren.
"Wie sollte das Muschelmädchen denn sein?", frage ich deshalb neugierig.
"Muschelmädchenmäßig irgendwie. Manchmal ein rotes Tuch in den Haaren tragend. Manchmal aber auch nicht.", lautet die Antwort.
Ich muss herzlich lachen. Ich kann mich gut an dieses Foto von mir erinnern. Ich bin 16 Jahre alt und knie auf einem Bett. Bekleidet bin ich mit einer gestreiften, weiten Hose und einem gelben, ziemlich bunt gemusterten T-Shirt. Meine Haare werden von einem roten Haarband zurückgehalten. Wild und lebensfroh.
"Du meinst, das Muschelmädchen mit dem roten Haarband ist eine Stierkämpferin?", frage ich, um gleich darauf zu widersprechen, "Das glaube ich nicht. Sie ist mehr Traumtänzerin als jemand, der sich mit Stieren anlegt."
"Silberfuchs sucht Muschelmädchen.", schreibt er schließlich. Ganz schlicht.
Ich lächle.


Als ich 16 Jahre alt bin, lernen wir uns in einem Chat kennen. Er ist 15 Jahre älter als ich. Und wir mögen uns. Um ehrlich zu sein, bin ich vermutlich zu diesem Zeitpunkt sogar ein kleines bisschen verliebt in ihn, auch wenn wir uns hauptsächlich Mails und Briefe schreiben und nur recht selten miteinander telefonieren. Weil ich so gerne Pesto esse, verspricht er, mir ein Pesto-Schlauchboot mit der Post zu schicken. Ein Werbegeschenk. Ich nehme sein Versprechen ernst. Dass es dieses Schlauchboot gar nicht gibt, begreife ich erst Wochen später. Wir lachen darüber. Er über mich, ich mit ihm.
Als ich mein erstes Studium aufnehme, ziemlich kurz nach dem Date mit dem Sadomasochisten, intensiviert sich unser Kontakt. Vorsichtig beginnen wir damit, Phantasien aus dem BDSM-Bereich zu teilen. Eine davon, aus dem Bereich Rapeplay, beschäftigt mich noch immer in regelmäßigen Abständen. Auch als ich nach dem Masterstudium vorübergehend in einer Anwaltskanzlei tätig bin und Zuarbeiten in einem Rechtsstreit übernehme, in der eine Frau regelmäßig von ihrem Mann geschlagen, vergewaltigt und gefoltert wird. Beim Ansehen der Bilder, die mir da vorgelegt werden, wird mir schlecht. Ich fühle mich hilflos und schuldig dieser Frau gegenüber. Weil ich Lust an sexuellen Praktiken empfinde, die in einem anderen Kontext absolute Grenzüberschreitung, Gewalt und Schmerz bedeuten. Außer ihm, meinem alten Freund und Blognachbarn, habe ich niemanden, den ich fragen kann, warum wir so abnormal sind und was genau eigentlich falsch mit mir ist. Er teilt diesen Moment mit mir. Schafft es, mir ein Stückweit die Angst und den Ekel vor mir selbst zu nehmen. Ist einfach da. Bis wir, fast nahtlos, loslassen und in die nächste Phantasie hineingleiten. Irgendwann aber den Kontakt verlieren.

Es ist schon seltsam, dass man einen Menschen 15 Jahre kennen und ihm nahe sein kann, ohne ihm jedoch jemals in die Augen gesehen zu haben.

Kommentare

  1. Hält man sich vor Augen, dass es immer wieder Menschen gibt, die man
    seit 15 Jahren "von Auge zu Auge" kennt und dann eines Tages doch feststellt,
    dass man sie eben GAR NIE wirklich "gekannt" hat - dann erscheint mir der Umstand,
    jemanden 15 Jahre lang nie zu Gesicht bekommen zu haben und DOCH gut zu kennen,
    viel, viel weniger seltsam als Ersteres.

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  2. Es ist nicht abnormal und mit Dir ist auch nichts falsch. Das wäre es nur wenn Dir beim Anblick der Bilder des Ernstfalles nicht schlecht würde. Das eine ist ein einvernehmliches Spiel zwischen zwei Menschen. Wie das aussieht kann doch allen anderen bitte herzlich egal sein so lange sich alle Beteiligten dabei gut fühlen und nicht seelisch und/oder körperlich zu Schaden kommen. Also ernsthaften körperlichen Schaden.

    Das andere ist eben kein Spiel. Und Du kennst, erkennst den Unterschied. So lange Du das kannst, bist Du vollkommen normal ;-)

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    1. Dankeschön! Es ist ein gutes Gefühl, das mal so klar und deutlich zu hören (oder zu lesen).
      Aber es ist schon ein wenig seltsam, etwas als Spiel zu spielen, was für andere Menschen in anderen Situationen purer Ernst ist.

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  3. Was ist schon "abnormal"? Ich kannte jemanden, der sonntags brav in den Gottesdienst ging und zu Hause den Sohn verprügelte. Das ist für mich abnormal. Im Bett (oder wo auch immer) denke ich mir: erlaubt ist, was beiden gefällt -auch wenn ich mit der BDSM-Thematik wirklich nichts am Hut habe und aufgrund der Gewaltszenen nicht mal den Tatort oder härtere Filme sehen kann. Aber jeder Jeck ist anders. Wohl denen, die ihr Leben so (aus)leben (können), wie es ihnen entspricht.

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    1. Vermutlich hast du recht: Abnormal ist, was die Grenzen eines anderen Menschen aktiv verletzt.
      Ich finde es schön, dass jeder Jeck anders ist - das macht das Leben spannend. :-)

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