In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein. Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin
Vom Deutschlehrer und dem verlorenem Kuss
"On the third day, he took me to the river
He showed me the roses and we kissed
And the last thing I heard was a muttered word
As he knelt above me with a rock in his fist"
(Nick Cave & The Bad Seeds/Kylie Minogue: Where the wild roses grow)
Ich bin in der elften Klasse eines Internats. Mein Deutschlehrer ist erst 32 Jahre alt und so ziemlich der schönste Mann, den ich jemals gesehen habe. Nett ist er auch. Allerdings leidet unser Verhältnis außerhalb der Schule massiv darunter, dass er mich unterrichtet. Ich war immer gut in Literatur. Trotzdem gibt er mir schlechte Noten. "Du musst mehr mitarbeiten, Muschelmädchen!", sagt er, "Melde dich dreimal in der Stunde, das ist ein Anfang. Wenn du das schaffst werde ich dir eine gute Note geben." Ich melde mich nicht. Vermutlich um mich zu provozieren, benotet er meine Mitarbeit mit einer 5. Luise, die noch weniger sagt als ich es tue, bekommt eine 3. Ich fühle mich ungerecht behandelt und würde vor Zorn am liebsten anfangen zu weinen. Weil mir das aber zu peinlich ist, weiche ich seinem fragenden Blick in den kommenden Deutschstunden aus. Versuche mitzuarbeiten, ohne ihn anzusehen. Stunde um Stunde. Ich spüre, dass ihn mein Verhalten irritiert. "Ist alles okay, Muschelmädchen?", fragt er einmal. Ich nicke nur, drücke mich an ihm vorbei und gehe. Er soll mich nur in Ruhe lassen.
Wochen später, als der Sommer schon lange den Frühling abgelöst hat, findet ein Internatsausflug statt. Mein Deutschlehrer, Oliver ist sein Name, ist als Aufsichtsperson dabei. In einem kleinen Restaurant auf einem Berg, welches uns eine traumhafte Aussicht über den Harz ermöglicht, essen wir etwas. Wir lachen viel und ich schäkere ein wenig mit Adrian. "Weißt du", sagt dieser irgendwann nachdenklich, "Irgendwie verstehe ich die Menschen nicht. Für mich sind sie völlig unberechenbar." Ich lächle ihn an. Aus einem Impuls heraus sage ich: "Sei doch froh, Adrian. Mir fällt es leicht, Menschen zu durchschauen. Vielleicht ist das Leben aufregender, wenn du genau das eben nicht tust." Unvermittelt fange ich Olivers Blick auf. Ich habe das Gefühl, dass er direkt in mich hineinsieht. Eine Gänsehaut wandert meinen Rücken hinab. "Dann charakterisiere mich doch mal, Muschelmädchen", fordert mich Oliver unerwartet auf. Adrian steht die Überraschung ins Gesicht geschrieben. Ihm ist entgangen, dass jemand unser Gespräch mithört. Und ich denke: Ich bin doch nicht wahnsinnig und mache mir meinen Deutschlehrer zum Feind, indem ich hier, vor allen Leuten, damit anfange, seinen Untertitel zu lesen. "Nein", antworte ich deshalb mit fester Stimme. Nur eine kurze Zeit lang versucht er, meine Meinung zu ändern. Doch er lässt von mir ab, ehe es seltsam wird. Die Enttäuschung, die dabei in seinem Blick liegt, versuche ich auszublenden.
Auf dem Rückweg zum Internat beginnt es zu regnen. Die Luft ist schwer vor Nässe und voll von Blumenduft. Ein glückliches, innerliches Kitzeln sucht sich einen Weg durch meinen Körper. Will hinausgelacht werden. Ich streife mir die Schuhe von den Füßen. Ich will den warmen Sommerregen auf der Haut spüren, mich im Regen drehen und das Leben genießen. Alles ist so leicht in diesem Sommer. Während ich barfuß auf die nächste Pfütze zuhüpfe, flüchten alle anderen ins Trockene. Plötzlich aber trifft mich ein Wasserschwall. Oliver ist neben mir in die Pfütze gesprungen. Seine Augen leuchten übermütig und er blinzelt mir zu. Einen Moment lang lachen wir einfach aus vollem Herzen. Bevor es weitergeht. Von Pfütze zu Pfütze. Irgendwann springt er, verliert dieses Mal aber beim Aufkommen im Matsch den Boden unter den Füßen und stürzt, mit den Armen wild rudernd, in die nächste Pfütze. Er ist von oben bis unten mit Schlamm bedeckt. Ich kann gar nicht mehr aufhören zu lachen. Er sieht so unwahrscheinlich lustig aus mit seinen Sommersprossen aus Matsch. Die schönsten Sommersprossen der Welt.
Ein merkwürdiges Bild muss es abgeben, wie wir später, von Kopf bis Fuß durchnässt, im Regen stehen und die Gesichter, mit geschlossenen Augen, den Tropfen entgegensrecken. Die Sommerkleidung klebt feucht an unsern Körpern. Offenbart mehr, als dass sie etwas versteckt. Als es zu gewittern beginnt, lächelt Oliver. "Ich muss mich ein wenig saubermachen", sagt er, "So kann ich unmöglich zu meiner Frau gehen. Sie hat vorhin die Wohnung geputzt." Der Fluss neben uns rauscht. Mit allem was er an Kleidung trägt, steigt er hinein. Lässt sich im klaren Wasser treiben. Es blitzt und donnert. Schon in diesem Augenblick weiß ich, dass ich diesen Moment festhalten will. Und diesen Mann. Ich will nicht, dass er zu seiner Frau geht. Gleichermaßen ist mir bewusst, dass er das tun muss. Er wird nach Hause gehen. Dorthin wo er hingehört.
Ich bin 18 Jahre alt und fühle mich ziemlich erwachsen. Immerhin bin ich alt genug, um zu wissen, dass sich Schülerinnen nicht in Lehrer vergucken sollten. Das hier ist eine Geschichte, die kein gutes Ende finden kann. Also versuche ich mich abzulenken. Mich nicht an die unbändige Lebenslust zu erinnern, die in seinen Augen geglitzert hat, als wir durch den Regen gehüpft sind. Die so viel mehr versprechen würde, wenn sie nur dürfte und 14 Jahre jünger wäre. Nicht an das Gefühl zu denken, dass wir einander ähnlicher sein könnten, als wir glauben: Suchende.
Ich will Musik hören. Keine der CDs, die er mir in der letzten Zeit gebrannt hat. "Hör mal vernünftige Musik", hatte er gesagt, als er mir einen Stapel CDs in die Hand gedrückt hatte, "Und keine Onkelz. Das ist keine Musik." Aber sein Musikgeschmack ist mir, wenn man von Nick Cave absieht, zu experimentell. Und überhaupt, ich will ja gar nicht an ihn denken. Also wähle ich Pink Floyd aus. Another brick in the wall. Und ich gebe zu: Ich will provozieren. Ich drehe die Anlage auf volle Lautstärke und bin mir sicher, dass er die Musik in seiner Wohnung auf Zimmerlautstärke hören kann. "We don't need no education /We don't need no thought control /No dark sarcasm in the classroom/Teacher leave them kids alone/Hey teacher leave them kids alone /All in all it's just another brick in the wall"
Plötzlich steht er in meinem Zimmer. Ich zucke zusammen, habe ihn weder kommen, noch anklopfen oder eintreten hören. Seine dunkelblonden Locken hängen ihm wild ins Gesicht. Der Brustkorb hebt und senkt sich heftig. Die Augen sind schwarz vor Wut. Erschrocken reiße ich die Augen auf und drehe ich die Lautstärke meiner Musik hinunter. "Weißt du eigentlich, was du hier für ein Spiel spielst, Muschelmädchen?", faucht er mich an, "Ist dir bewusst, was du hier machst?" Taumelnd weiche ich ein paar Schritte zurück. "Pass bloß auf!", seine Stimme wird leise und ganz scharf, "Pass bloß auf, dass du dir nicht selbst die Finger verbrennst!"
Das Leben zieht viel zu schnell vorbei. Und wenn ich heute an diese Situation denke, dann weiß ich, dass es der richtige Moment gewesen wäre, um ihn zu küssen. Aber diesen Kuss verliere ich, denn ich tue es nicht. Bin keine Ehebrecherin, obwohl mein Gewissen in diesen Tagen nicht sehr schwer wiegt. Und ich es so gerne tun würde. Wochen später lassen wir einander also, nach einer gemeinsam durchzechten Nacht, in der er seinen Willen bekommt und ich ihm die Spar-Version seines Untertitels vorlese, ziehen. In Nächten wie einer der vergangenen, wenn mein Unterbewusstsein mir Streiche spielt und ich von ihm träume, dann begleitet mich so ein warmes Gefühl in den nächsten Tag hinein. Hoffnung. Ich hoffe von ganzem Herzen, dass seine Suche ein Ende gefunden hat.
Irgendwann als Jugendliche las ich mal ein Buch - ich glaube, es war "Gangs of New York" von Herbert Asbury - in dem jemand sagte, er würde seinen Kaffee nur schwarz trinken, damit er nichts vermissen müsse, gäbe es mal keinen Zucker oder keine Milch. Ich fand das damals ziemlich nachvollziehbar und auch ein bisschen cool. Deshalb habe ich die Geschichte, auch hier im Blog, gerne erzählt und meinen Kaffee ebenfalls lange schwarz getrunken. Heute, viele Jahre später, fällt mir dieser Spruch wieder ein. Und zum ersten Mal fällt mir auf, wie blödsinnig er ist. Mittlerweile trinke ich meinen Kaffee mit Milch. Täglich und immer. So liebe ich ihn. Und genauso wie ich meinen Kaffee trinke, lebe ich nun auch mein Leben: Es ist nicht gut, prophylaktisch auf Dinge zu verzichten, weil man sie irgendwann mal missen könnte, wenn sie nicht mehr sind. Ich genieße die Dinge heute und koste sie, möglichst bewusst, aus, weil ich nicht weiß, ob es ein Morgen gibt. Wenn es aber kein Morgen gibt
Ich muss an meine Kollegin denken. Vor ein paar Wochen kam sie krank zur Arbeit. Nachdem wir einen halben Tag zusammen in unserem kleinen Büro gesessen hatten, sagte sie ganz unglücklich: "Ich glaube, ich habe Corona. Aber ich darf kein Corona haben. Wenn ich jetzt Corona habe, kann ich nicht in den Urlaub fliegen. Dann kann ich nie wieder glücklich sein." Ich musste etwas lachen, weil ich sie zunächst gar nicht ernst nahm. In dem Wissen um ihre Weihnachtsverliebtheit erwiderte ich scherzhaft: "Doch, doch. Spätestens zu Weihnachten wirst du wieder glücklich sein!" Doch sie schüttelte nur den Kopf. "Nicht einmal dann.", antwortete sie ernst. Ihre Worte sind mir sehr nachgegangen und zunächst einmal konnte ich gar nicht verstehen, warum dem so ist. Eine Zeitlang überlegte ich, ob ich neidisch sein könnte. Auf die Fähigkeit, ein nicht Antreten des Urlaubs als einen so großen Verlust zu empfinden. Aber das war es nicht. Mittlerweile weiß ich, dass es mich schl
Ich lasse die Statusmeldungen bei W.hatsA.pp durchlaufen und stolpere darüber, dass T. Bilder veröffentlicht hat. Das trifft mich, nach Jahren der Stille, unerwartet. Zugleich ist der Zeitpunkt fast schon lächerlich passend, weil ich in letzter Zeit oft an ihn denke. Denn ich lerne an H. wie tief die Verletzungen sind, die T. mir zugefügt hat. Seit T. ist H. der erste Mensch, dem ich es gestatte, so tief in mich hineinzusehen. Das ist irgendwie leicht, weil er so liebevoll und gut zu mir ist und andererseits ist es schwerer denn je, weil ich jederzeit erwarte, an den Punkt zu stoßen, an dem er mich zurückweist. Ich erwarte verbale Verletzungen und Ablehnung meiner Person in vorauseilendem Gehorsam. Der Glaube daran, das etwas wirklich gut sein kann ist mir abhanden gekommen. Ich genieße die Zeit, die wir miteinander verbringen. Aber ich warte auf das Ende. Jeden Tag. Ich vermute, die Bilder aus T. Status' sind aus seinem Bus heraus aufgenommen. Vielleicht auch nicht, aber sie fühle
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