Von alten Gefühlen

Es ist schon später Abend. Ich komme gerade vom Laufen als mein Handy piept. Jemand schickt mir über WhatsApp Fotos vom Absolvententreffen meiner Schule. Ich freue mich darüber. Es ist spannend, Menschen zu sehen, die ich teilweise seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen habe. Aber dann entdecke ich etwas, dass mich scharf einatmen lässt. Ich halte dem Mann mein Handy unter die Nase: "Guck mal!", fordere ich ihn auf. Der Mann guckt und sagt schließlich fragend: "Ja. Und?" "Da ist Harry !", sage ich. "Ja.", sagt der Mann, "Das sehe ich." "Harry ist beim Absolvententreffen!", stelle ich fest. Der Mann guckt ein bisschen irritiert.  "Ja.", sagt er, "Und?" "Harry ist beim Absolvententreffen", wiederhole ich. Und vielleicht schwingen bei diesen vier Worten mehr Gefühle mit als ich will. Der Mann mustert mich. "Muschelmädchen, ist alles okay?", fragt er und sieht mich prüfend an. "Du bist

Von all den bunten Farben



Morgens heiß Duschen zu gehen. Und unter dem perlenden Wasser stockelig und schief mitzusingen. Das Fenster zu öffnen, sich nackt in die Küche zu setzen und vom Wind trocknen zu lassen. Dabei kleine Gänsehautschauer zu fühlen, die über den Körper wandern, und einen warmen Kaffee in der Hand zu halten. Sich Zeit für sich selbst zu nehmen. Jeden Millimeter am Körper zu rasieren und einzucremen. Das Lieblingsparfüm ohne Anlass zu benutzen. Es zu verschwenden.

Mit den Händen zu fühlen. Die eigene, weiche Haut. Die Wärme der Hände. Die absolute Intimität, die nur zwischen einem selbst und dem eigenem Körper gegeben ist. Mit den Fingerspitzen über die Raufasertapete zu streichen. Dabei die kleinen Hügel und Huppel zu fühlen. Und sich wegzudenken. Die Stirn an das kalte Fensterglas zu legen. Es anzuhauchen. Mit dem Zeigefinger ein Herz auf die Scheibe zu malen. Währenddessen die Sonne zu spüren, die sich warm auf das Gesicht legt. Den Blick zwischen lauter weißen Wattewolken zu verlieren.

In die Welt hineinzulauschen. Dem grünen Plastikradio einen Tritt zu verpassen und so übermotivierte Radiomoderatoren auszuschalten. Stattdessen dem Wasser dabei zuzuhören, wie es in die Porzellantasse fällt. Zu hören, wie sich der Tag belebt. Wie die Vögel zwitschern. Kinder sich von ihren Eltern verabschieden und sich auf den Weg zur Schule machen. Innehalten und den Menschen dabei zuhören, wie sie zur Arbeit hasten. In sich selbst Ruhe finden. Auf den Bauch und das Herz zu hören. Sich selbst zu vertrauen. Schmerz zuzulassen. Und trotzdem weiter zu atmen.

Zu riechen. Den Duft des Lieblingsparfums. Die Creme. Das vanillige Duschgel. Den leckeren Bohnenkaffee, dessen Aroma die ganze Wohnung füllt. Dieser einzigartige, morgendliche Geruch, der Lust darauf macht, einen neuen Tag zu beginnen. Der sich langsam mit dem Geruch der frischen Brötchen mischt und Appetit macht: Auf neue Herausforderungen. Erlebnisse. Und Gefühle. Die frische, kalte Luft wahrzunehmen, die durch das Fenster schwappt und sich leicht über alles legt, was mit ihr in Berührung kommt. Die alles neu macht. Und irgendwie annehmbarer. Weil sie so unverbraucht ist.

Schlicht und ergreifend: Das Leben zu schmecken. Bei vollem Bewusstsein. Mit allen verfügbaren Sinnen. Die Dinge anzunehmen, wie sie kommen. Sich brechen zu lassen. Wieder aufzustehen. Weiterzumachen. Es noch einmal zu versuchen. Zu lernen, wie menschlich es ist, zu stolpern. Und das man Fehler machen darf. Dass es unmöglich ist, perfekt zu sein. Und auch gar nicht erstrebenswert. Ecken, Kanten und kleine Marotten zu schätzen. Authentizität zu schätzen. Sich in der Welt treiben zu lassen. Sich umherwirbeln zu lassen, bis man nicht mehr weiß, wo oben und unten ist. Beide Richtungen neu zu definieren. Bei sich selbst zu bleiben. Das Leben zu lieben. In all seinen Höhen und Tiefen. Mit all seinen kleinen und großen Vibrationen. Und allen Hindernissen. Es zu fühlen. 

Sich einmal – nur einziges Mal – auf das Wesentliche zu besinnen. Die Augen zu öffnen. Bewusst. Und zu sehen. Zu schätzen, was jetzt, in genau diesem Augenblick, ist, anstatt mit dem zu hadern, was nicht sein soll. Das Leben ist bunt und vielfältig. Das ist das Beste daran.

...
VIA from Blue Zoo on Vimeo.

Kommentare

  1. „ sich einmal - nur ein einziges mal- auf das Wesentliche zu besinnen“.

    Das ist etwas, das Dir jeden Tag besser gelingen wird, den Du älter wirst.
    Aber ÜBEN musst Du es SCHON.^^ Also geh raus, Muschelmädchen, und übe,
    springe, tanze, segle, lass zu.
    Dann lässt auch das innere Hadern mehr und mehr nach. Das ist ein Versprechen.

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    1. Ist das so? Dass es im Alter besser gelingt, sich auf das Wesentliche zu besinnen?
      Das ist mir neu. Aber es gibt Hoffnung. Wobei ich mich jetzt im Zwiespalt fühle: Ich will doch gar nicht älter werden...

      Springen, tanzen, segeln, üben (und lachen und lernen und fliegen und träumen und lieben und...) will ich allerdings schon. Wie schön der Gedanke ist, niemals wieder zu hadern.

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  2. Superschön. Da ich es erst heute Morgen gelesen habe, hast mir einen ganz tollen Wochenstart beschert!

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    1. Wirklich?
      Ich habe heute Morgen den letzten Post, den ich geschrieben habe, wieder offline gesetzt. Dann war das gut und ich habe alles richtig gemacht. Jede Woche sollte mit einem Lächeln beginnen. :-)

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