Von alten Gefühlen

Es ist schon später Abend. Ich komme gerade vom Laufen als mein Handy piept. Jemand schickt mir über WhatsApp Fotos vom Absolvententreffen meiner Schule. Ich freue mich darüber. Es ist spannend, Menschen zu sehen, die ich teilweise seit fast 20 Jahren nicht mehr gesehen habe. Aber dann entdecke ich etwas, dass mich scharf einatmen lässt. Ich halte dem Mann mein Handy unter die Nase:
"Guck mal!", fordere ich ihn auf.
Der Mann guckt und sagt schließlich fragend:
"Ja. Und?"
"Da ist Harry!", sage ich.
"Ja.", sagt der Mann, "Das sehe ich."
"Harry ist beim Absolvententreffen!", stelle ich fest.
Der Mann guckt ein bisschen irritiert. 
"Ja.", sagt er, "Und?"
"Harry ist beim Absolvententreffen", wiederhole ich. Und vielleicht schwingen bei diesen vier Worten mehr Gefühle mit als ich will.
Der Mann mustert mich.
"Muschelmädchen, ist alles okay?", fragt er und sieht mich prüfend an. "Du bist ja ganz fassungslos darüber, dass er da ist."
"Alles gut.", wiegel ich ab und weiche seinem Blick instinktiv aus.
"Wärst du jetzt auch gerne beim Absolvententreffen?", fragt der Mann, "Weil Harry da ist, meine ich?"
"Nein.", antworte ich. Das "Nein" kommt aus meiner Fußsohle und vor allem kommt es viel zu schnell. Ich kann die Verwunderung des Mannes geradezu körperlich spüren.
"Ich gehe mal duschen.", lenke ich deshalb ab.

Im Badezimmer schäle ich mich aus den Laufklamotten und stelle die Dusche an. Das kalte Körper rinnt über meinen Körper. Das hier, dass ist immer der beste Moment nach dem Laufen: Wenn die Muskeln schmerzen und der Kopf ganz leer ist.
Heute aber schiebt sich mir immer wieder das Bild von Harry vor die Augen.
Als ich aus der Dusche komme, habe ich eine WhatsApp-Nachricht von einem alten Freund.
"Harry ist auch hier.", schreibt er.
Ich verdrehe innerlich die Augen.
Warum sich wohl die halbe Welt verpflichtet fühlt, mir mitzuteilen, dass Harry beim Absolvententreffen ist? Vermutlich weil wir mal beste Freunde waren. 
Mühselig widerstehe ich dem Drang auf die WhatsApp-Nachricht zu antworten. ("Sag Harry, dass er ein Arschloch ist!")

Als ich wieder angezogen bin, gehe ich ins Wohnzimmer. Ich setze mich aufs Sofa, so weit entfernt vom Mann wie möglich, zögere einen Moment und sage dann:
"Die Sache mit Harry ist die: Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, wollte er mit mir schlafen. Ich wollte nicht, habe 'Nein' gesagt, er hat nicht aufgehört. Es gab ein wildes Gerangel, ich habe versucht, ihm eine Ohrfeige zu geben und er hat mich eine frigide Trulla genannt. Das war bei meiner Mutter Zuhause. Er hat im Gästezimmer geschlafen und ich hatte die ganze Nacht Angst, dass er wiederkommt und in mein Bett will. Am nächsten Morgen hat er mit meiner Mutter in aller Seelenruhe einen Kaffee getrunken und danach habe ich ihn nie wieder gesehen. Das heißt... Er hat noch ein paar Mal angerufen. Aber ich bin nie rangegangen. "

Der Mann sieht mich entsetzt an.
"Krass.", sagt er und sieht jetzt vermutlich ebenso fassungslos aus wie ich vorhin beim Anblick von Harrys Foto.
"Wann war das denn?", fragt er.
"Am 23.12.2018.", antworte ich ohne darüber nachdenken zu müssen. Dann muss ich daran denken, wie ich Tage später abends, es war schon dunkel, in meinem Auto saß und mit jemandem aus Bloggerhausen telefoniert habe, der mich auf das, was da zwischen Harry und mir passiert ist, ansprach. Und wie mir in diesem Telefonat still die Tränen über die Wangen gelaufen sind. Ein letztes Telefonat bis heute und der einzige Versuch darüber zu sprechen für viele Jahre. Ich habe mich furchtbar verloren gefühlt an diesem Abend. In dieser Zeit. Haltlos. Sex war für lange Zeit kein Thema mehr. Nicht mehr Selbstbefriedigung ging. Ob der Mann sich daran erinnert?

Ich habe ihn die ganze Zeit, während ich geredet habe, nicht angesehen. Trotzdem kann ich seinen Blick, der auf mir ruht, kaum aushalten. Um mich zu entziehen stehe ich auf.
"Weißt du", sage ich, während ich in die Küche gehe, "Auf diesem Absolvententreffen sind Menschen, die mich kennen, die wissen, wo ich wohne und die Kontakt zu mir haben. Und ich will einfach nicht, dass er irgendwas über mich oder uns als Familie weiß. Bei dem Gedanken, dass er sich mit anderen Menschen über mich unterhält, schüttelt es mich."
Für einen Augenblick schweige ich.
Dann schiebe ich hinterher:
"Ich finde einfach nicht, dass er auf diesem Absolvententreffen sein sollte. Wenn irgendjemand da sein sollte, dann bin ich das. Er hat kein Recht dazu!" Man kann die Wut in meiner Stimme hören. "Klar, dass ist völlig irrational und nicht richtig. Und ich will nicht mal auf diesem blöden Absolvententreffen sein. Aber ich will auch nicht, dass er da ist!"

Tränen brennen in meinen Augen als ich die Haustür öffne und nach draußen trete. Ich atme tief ein, fülle meine Lungen mit frischer Luft und versuche, regelmäßig zu atmen. Ich muss die Kontrolle über mich zurück gewinnen.
Ich dachte, ich sehe Harry nie wieder.
Ihn jetzt auf einem Foto zu sehen spült Gefühle in mir hoch, die ich nicht fühlen will. Ich will nichts davon je wieder fühlen. 


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