Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Vom Verzeihen

Vor mir fährt ein LKW, an dessen Rückseite großflächig ein Name angebracht ist. Irgendwie kommt mir dieser Name bekannt vor, jedoch kann ich ihn für ein paar Momente nicht zuordnen. Bis es mir schließlich, ganze Minuten später, plötzlich wie Schuppen von den Augen fällt:
Auf dem LKW stand der Name deine Geburtsortes - ein drei-Seelen-Kaff irgendwo im Nirgendwo. Sofort sehe ich dich in meiner Erinnerung lachend die Geschichte über die Entstehung des Ortsnamens erzählen. Lange habe ich nicht mehr an dich gedacht. Unwillkürlich frage ich mich, ob es wohl ein Zeichen ist, dass ich, so brachial in meinen Alltag hinein, an dich erinnert werde. Aber sollte es so sein, dann hoffe ich von Herzen, das es ein gutes Zeichen sein mag.
Nie in meinem Leben hat mich ein Mensch so betrogen, wie du es getan hast.
So tiefgehend und existentiell, so alles vernichtend und schmerzhaft.
Trotzdem hoffe ich, dass es dir heute gut geht.
Und dass du zu dem Menschen geworden bist, der du immer sein wolltest.

*.* 

In Erinnerung


"Und während ich dich so anschaute, entdeckte ich all die wunderbaren Unvollkommenheiten an dir, deren unzählbare Menge die Menschen insgesamt und dich im Besonderen ebenso liebebedürftig wie liebenswert und so einzigartig machen."

(Hans Bemmann: Die beschädigte Göttin)

Wenn man sie nach ihrer Lieblingssängerin fragte, legte sie das Gesicht in Falten. Noch heute kann ich mich ganz genau daran erinnern, wie sie die Augen schloss, den Kopf in den Nacken legte und verträumt lächelte. Björk…, hauchte sie dann irgendwann, so, als würde sie sich noch während der Antwort in ihrer Musik verlieren. Wenn ich sie damals besuchte, lief fast ausschließlich Björk im Hintergrund und ich fand die Musik immer scheiße, obwohl ich mir echt Mühe gab dieses affektierte, unharmonische Gedudel zu mögen. Ich war wohl immer ein bisschen neidisch auf sie, weil sie so „alternativ“ und „speziell“ war. Sie war so annähernd alles, was ich damals sein wollte, nämlich: „Anders“. Jeder von uns wollte sich von der Menge abheben und etwas Besonderes sein. Erst im Nachhinein kann ich sagen, dass sie wohl die einzige von uns war, die das wirklich war. Ob ihr die Musik von Björk tatsächlich gefiel, weiß ich bis heute nicht. Aber ich wette, heute mag sie Adele. Woher ich das weiß? Sie konnte singen wie Adele. Wirklich, aus dem Stehgreif, ohne zu üben oder sich „warm“ zu singen. Ich habe es geliebt, wenn sie mir etwas vorsang. Seltsam, dass ich mich erst jetzt daran erinnere, während ich diese Worte hier schreibe. Es gibt so viele Dinge, die ich vergessen habe. Ich glaube, die meisten Erinnerungen wollte ich irgendwann vergessen. 

Ich mochte sie, so ganz ohne Vorbehalte, und sie zeigte mir an jedem einzelnen Tag, an dem wir einander sahen, dass es ihr ebenso ging. Wenn es Tage gab, an denen wir uns nicht trafen, so waren wir doch in Gedanken beieinander und schrieben uns Briefe. Jeden einzelnen davon habe ich aufbewahrt und in einem dicken Aktenordner abgeheftet. Es ist ein seltsames Gefühl, sie heute zu lesen, denn sie belegen, wie nahe wir einander standen. In den vergangenen Jahren muss ich das wohl verdrängt haben, aber die vielen Zeilen zeigen, dass wir einander ausnahmslos alles erzählten. Ich kannte ihre Probleme, wusste, wie unwohl sie sich in ihrer Familie fühlte und wie sehr sie darunter litt, dass ihr Vater versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Als ich Angst hatte, schwanger zu sein, war sie die erste und die einzige Person, mit der ich darüber reden konnte. Damals hatte ich das Gefühl, meine Welt würde untergehen, wenn ich es tatsächlich wäre. Während ich ihr, heulend wie ein Schlosshund, davon erzählte, hielt sie mich in dem Armen, erzählte mir, alles würde wieder gut werden und streichelte mir über den Kopf.

Ich litt unwahrscheinlich, als wir uns in den gleichen Mann verliebten. Über Monate. Aber unsere Freundschaft war stark genug, das zu überstehen, denn wir waren ehrlich zu einander und beschlossen, falls einer von uns beiden sein Herz gewönne, würde die andere ihr das Glück gönnen. Und dem war so. Als sie mir einige Wochen später einen handgeschriebenen Liebesbrief, der an sie adressiert war, zeigte, probierte ich, mich zu disziplinieren. Ich zog mich von heute auf Morgen von dem Mann, der heute einer meiner ältesten und engsten Freunde ist, zurück, unterdrückte den Schmerz und versuchte, mich mit ihr zu freuen. Von ganzem Herzen. Ich hätte ihr alles gegönnt, denn sie war nicht nur meine Freundin, sondern auch ein herzensguter Mensch. Sie hätte sich keinen besseren Mann aussuchen können. Daran das sie ihn mehr verdiente, als ich das je tun würde, gab es nie einen Zweifel für mich.

Manchmal gab es Phasen, in denen sie sich von mir zurückzog und mit sich selbst alleine sein musste. Das war in Ordnung, ich kannte dieses Bedürfnis von mir selbst und es fiel mir nicht sonderlich schwer, es zu akzeptieren. Aber ab und an machte sie mir auch Angst. Dann tauchte sie aus dem Nichts wieder auf, sah blass und abgekämpft aus. Ich kann die Momente nicht zählen, in denen sie unkontrollierbare Panikattacken überfielen und ich mich hinter sie setzte, sie in den Arm nahm und sie aufforderte, zusammen mit mir zu atmen. So oft versuchte ich, meine eigene Angst unterdrückend, sie zu beruhigen, während sie hyperventilierte. Manchmal beruhigte sie sich erst, wenn ich schon dabei war die Nummer des Notrufs zu wählen. Es gab Tage an denen flehte ich sie an, sie möge sich – um ihretwillen – helfen lassen. Ich machte mir oft Sorgen um sie, aber zugleich wusste ich, dass sie ein sehr starker Mensch war, der wissen würde, wann er Hilfe bräuchte. Sie war eine Kämpferin, die allen Widrigkeiten mit immenser Willensstärke zu trotzdem schien, auch wenn sie sich anfangs vielleicht etwas schwertat. Darüber hinaus war sie ein wahnsinnig lebenshungriger Mensch – immer mehr wollte sie vom Leben, immer mehr erleben und fühlen. Vermutlich war es eben das, indem wir uns gemeinsam wiederfanden. Wir waren beide so sehr auf der Suche nach etwas, von dem wir doch nicht wussten, was es war, so dass es sich nur mit dem Begriff „mehr“ beschrieben ließ. 

Weder mein Vertrauen noch meinen Glauben an sie verlor sie an einem einzigen Tag. Leider war es nicht einmal außergewöhnlich spektakulär. Das ist eigentlich schade, denn unsere Freundschaft hätte durchaus ein besonderes Ende verdient. Doch die Wahrheit ist, dass sie von einen auf den anderen Tag aus meiner Welt verschwand. Ohne sich zu verabschieden. Dabei nahm sie alles mit, was ich von ihr gewusst hatte und dessen ich mir sicher gewesen war. Sie wies sich selbst in die Geschlossene Psychiatrie ein und brach zu allen, die sie kannten, den Kontakt ab. Nicht, weil sie bemerkt hatte, dass sie einen Fehler begangen hatte, sondern um sich selbst vor uns – ihren Freunden – und unseren Fragen zu schützen. Sie hatte Angst vor uns. Vor den Vorwürfen, die wir ihr gemacht, vor den Fragen, die wir ihr gestellt hätten. Vor unseren Blicken. Und der Enttäuschung, die sich früher oder später auf unseren Gesichtern abgezeichnet hätte.
Ihr Lügengebäude hatte, wie eine unendlich lange Reihe aus Dominosteinen, begonnen einzustürzen. Nicht nur eine Lüge, sondern viele Lügen. Sie war nicht mehr in der Lage, das aufzuhalten. Dieses eine Mal nicht. Und eine Konfrontation schien sie sich nicht zuzutrauen.

Wie schlimm kann eine Lüge denn schon sein?
Jeder lässt sich mal zu einer Lüge hinreißen.
So dachte ich anfangs.
Und ich war bereit ihr zu verzeihen, denn sie war meine Freundin. Dass ich nach und nach erfuhr, dass es weitaus mehr als eine Lüge gewesen war, änderte nichts an meinem Bedürfnis, mit ihr reden und weiterhin mit ihr befreundet sein zu wollen. Hätte sie mir die Möglichkeit gegeben, so hätte ich ihr gesagt, dass ich ihr verzeihen will, dass sie wichtig für mich ist und mir am Herzen liegt. Aber ich glaube, sie wusste in ihrem tiefsten Inneren, dass ich – egal, wie gut meine Vorsätze damals gewesen sein mögen – ihr in Wahrheit nicht hätte verzeihen können, gleichgültig, wie viel Mühe ich mir tatsächlich gegeben hätte. Damals konnte ich, im Gegensatz zu ihr, das Ausmaß ihrer Lügen noch nicht einmal annähernd überblicken. Ich hatte ihr jahrelang blind vertraut. Im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich hatte nicht einmal etwas geahnt. Kein Funke von Misstrauen, kein seltsames Bauchgefühl, kein irritiertes Zögern hatte mich in ihrer Gesellschaft je überfallen. Niemals wäre ich auch nur auf die Idee gekommen, sie oder ihre Aussagen, ihr Verhalten, ihre Handlungen und ihre Gedanken anzuzweifeln.

Wenn man heute Menschen trifft, die sie kannten und die zu denen gehören, von denen sie sich abgewendet hat, dann senken sie die Blicke, wenn man auf sie zu sprechen kommt. Manchmal komme ich nicht umhin, mich zu fragen, ob sie weiß, wie viel Schutt und Asche sie auf ihrem Weg hinterlassen hat, wie sehr sie einigen Menschen – und damit meine ich nicht einmal mich selbst – wehgetan hat. 

Vor kurzem habe ich jemandem von ihr erzählen wollen. Aber als ich dazu ansetzte, wurde mir plötzlich klar, dass ich gar nichts über sie erzählen kann. Als ich ihm beschreiben wollte, was sie für ein Mensch war, fehlten mir die Worte. Denn ein ums andere Mal wird mir deutlich, dass ich nichts von ihr weiß, außer ein, zwei banaler Fakten:
Sie war ein pummeliges Mädchen mit kurzen Haaren, das für ihr Leben gerne Tomaten aß und unter der Dusche laut für ihre Quietsche-Entchen sang. Das sind die einzigen Dinge, derer ich mir sicher sein kann. Sie sind mein Resümee aus mehreren Jahren Freundschaft und gehen mit der Erkenntnis einher, dass sie ein großartiges Talent für Manipulation, Schauspielerei und Organisation hatte. Alle Erinnerungen, die mir bleiben, sind eine einzige brillant aufgebaute Lüge. Es gab keinen Vater, der versucht hatte, sich umzubringen, es gab keine Panikattacken und sie wurde niemals irgendeiner Schule verwiesen. Es gab nicht einmal den Liebesbrief des Mannes, in den ich so sehr verliebt gewesen war. Erst Jahre später erfuhr ich, dass sie ihn entweder selbst geschrieben oder schreiben lassen hatte – wer weiß, es spielt auch keine Rolle mehr.
Ich glaube nicht, dass man ermessen kann, was all diese Lügen bedeuten.
Denn ich kann es selbst nicht. Selbst heute noch nicht. Denn heute, viele Jahre später, beweist noch immer die eine oder andere Lüge, dass sie kurze Beine hat. Manchmal glaube ich sogar, dass ihre Lügen das Potential haben, mich bis an mein Lebensende zu begleiten.
Ich weiß nicht, wer sie war. Weder ihr Lächeln noch ihre Tränen und schon gar nicht ihre Geschichten waren echt. Ein jedes Wort verlor im Nachhinein seine Gültigkeit, eine jede Geschichte ihren Sinn und eine jede Handlung ihren Wert. 
Während ich diese Zeilen schreibe, fällt mir auf, dass es vielleicht doch noch etwas weiteres gibt, was ich von ihr weiß:
Über das Wissen hinaus, dass sie „anders“ sein wollte, glaube ich erahnen zu können, wer sie sein wollte. Ich hoffe und wünsche ihr, dass sie es geschafft hat, zu eben jenem Menschen zu werden. Sollten sich unsere Wege doch noch einmal zufällig kreuzen, werde ich sie in den Arm nehmen. Ich werde ihr sagen, dass Menschen Fehler machen. Wer frei von Schuld ist, werfe den ersten Stein. Ich werde es nicht sein. Dieses Mal würde ich sie festhalten. Und ihr sagen, dass ich den Menschen, der sie sein wollte, vermisse.



Kommentare

  1. WOW! Das ist Größe! Und dass du ausgerechnet eines meiner Lieblingslieder unter diesen Beitrag setzt, unterstreicht das noch!

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    1. Es ist auch eines meiner Lieblingslieder. Coldplay-Konzerte kann ich wärmstens empfehlen. :-)

      Es hat ein wenig Zeit gebraucht, um Größe entwickeln zu können...

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