Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von zwei langen Jahren

"Gewalt zerbricht an sich selbst."

(Laotse)

Später werde ich zu einem dieser Kinder, die so gar nicht beliebt sind. Die langen Haare trage ich zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden, das blasse Gesicht ziert eine auffällige, nicht besonders moderne blaue Nickelbrille und lächeln sieht man mich gar nicht mehr. Meine Klamotten sind ausnahmslos ein wenig zu groß, weil ich zu dünn und zu lang, weil ich einfach unproportioniert bin. Schön bin ich wirklich nicht und das schlimmste daran ist, dass ich das weiß. An den Tagen, an denen ich versuche, zu vergessen, wie hässlich ich bin, weisen mich meine Klassenkameraden daraufhin. Die sind wie ich. Die hassen mich auch.

Innerhalb von zwei Jahren verwandle ich mich von einem Kind, dass das Leben liebt, naiv und unschuldig auf Impulse reagiert, von einem phantasievollen, aufgeweckten, kreativen Mädchen mit einem großen Freundeskreis zu einem durch durch die Gegend tölpelnden, grundsätzlich unsicheren und vollkommen zurückgezogenen Kind, das seine Tage am liebsten alleine verbringt. An Orten, an denen es keine Spiegel gibt.

Ich bin das klassische Opfer und, ja, ich lasse mich dazu machen. Die Furcht, die mir überdeutlich ins Gesicht geschrieben steht, ist für alle Menschen um mich herum erkennbar, sie ist eine Einladung, meine Grenzen zu testen. Doch auch wenn es oft provoziert wird, wenn man mich zwingt, meinen Körper mit fremden Körperflüssigkeiten einzureiben, mich schlägt oder stundenlang mit meiner eigenen Hilflosigkeit konfrontiert, sie belächelt, kitzelt, ausreizt, wenn man mich degradiert, erniedrigt und quält, erreiche ich nicht ein einziges Mal den Punkt, an dem ich das Bedürfnis habe, meinem Gegenüber ähnliche Schmerzen zufügen zu wollen. Stattdessen ist alles, was ich in mir finden kann, grenzen- und gnadenloser Selbsthass. Irgendwann, nach Monaten der Zermürbung, bin ich mir, in meinem innersten Kern, sicher, dass ich es verdient habe, so behandelt zu werden. Einen Menschen wie mich kann man nicht mögen, geschweigedenn lieben. Denn das bin ich nicht wert. Und zu wissen, dass das für all die Menschen, die meine Wege kreuzen, sichtbar ist, ist das allerschlimmste.

Ich beginne damit, das Haus nur noch zu verlassen, wenn ich es muss. Mit Menschen spreche ich gar nicht mehr. Außer manchmal mit meinen Eltern. Aber auch nur dann, wenn ich muss, denn am liebsten bin ich einfach nur allein. Nicht einmal mehr die Menschen, die es wirklich gut mit mir meinen, nehme ich ernst. Hinter jedem Wort vermute ich Hass und Verletzung. Ich habe längst damit aufgehört, zuzuhören. Aber es gibt auch nicht besonders viele Menschen, die mit mir reden. Am lautesten ist eigentlich die Stille. Um sie zu übertönen, baue ich mir meine eigene Welt, lebe in meinem Kopf, reise mit Phileas Fogg in 80 Tagen um die Welt, suche mit Elli den Weg in die Smaragdenstadt und liebe, mit allem, was ich habe, den Holzfäller ohne Herz, der mir ebenso unvollkommen zu sein scheint, wie ich mich fühle, und dennoch so viel liebenswerter ist, als ich es je sein werde. 

Jeden Tag, bevor ich das Haus verlasse, sage ich mir: "Du schaffst das. Und wenn du es nicht schaffst, bringst du dich einfach um. Ist doch scheißegal.". Das ist mein Mantra. Über Tage, Wochen und Monate. Zwei Jahre lang. Die vermutlich längsten zwei Jahre meines Lebens.


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