Von Tagebuchsachen

Nachdem ich mehrere Nächte fast gar nicht geschlafen habe, liegen meine Nerven blank und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis ich ins straucheln gerate. Am Ende ist es H., der mich unabsichtlich und ohne es zu wollen aus der Bahn wirft: Er bucht, für mich unvermittelt, einen Urlaub, weil er das gute Wetter ausnutzen will. Der so blöd liegt, dass wir uns vermutlich in den nächsten vier Wochen auch nicht sehen werden. Eine kleine, gemeine Stimme in meinem Kopf flüstert: Urlaub und Sonne sind ihm halt wichtiger als dich zu sehen. Und obwohl ich weiß, dass dieser Gedanke (vermutlich) Quatsch ist, setzt er sich in mir fest und tut weh. Dazu kommt, dass ich ihn vermisse, ein großes hormonelles Ungleichgewicht, das mir vorgaukelt, unwichtig und alleine auf der Welt zu sein zu sein sowie das Körpergefühl eines schwangeren Elefanten. Mir tut alles weh, körperlich und psychisch. Also ziehe ich die Reißleine, wünsche H. von Herzen einen ganz wunderbaren Urlaub und ziehe mich so sehr zurück, wie

Von Raketenbrausebonbons und Brotdosen

Luki fällt mir auf, weil er sich heute so langsam umzieht. Während er sonst kaum 20 Sekunden braucht, um sich aus seiner Jacke zu schälen, sie aufzuhängen und in die Hausschuhe zu schlüpfen, tut er heute alles sehr langsam. Als er schließlich fertig ist, setzt er sich auf die Gaderobenbank des Kindergartens und guckt auf den Boden. Jetzt bin ich wirklich irritiert.
Mein Kind - ein kleiner, wilder Junge, der mittlerweile fast fünf Jahre alt ist - fällt mir um den Hals, verpasst mir einen nassen Wangenkuss, flüstert ein eiliges "habdichliebmama" und verschwindet wie ein geölter Blitz im Spielraum. Ich zögere nur kurz, eigentlich habe ich es eilig, aber gehe schließlich doch vor Luki in die Knie. 
"Was ist los, Luki?", frage ich ihn.
"Nichts.", antwortet er leise.
"Hast du heute schlechte Laune?", hake ich nach. Ich kann nicht locker lassen, nicht daran vorbeigucken, das irgendetwas nicht stimmt.
"Ja.", antwortet er.
"Ist etwas passiert?", frage ich weiter.
"Nein."
Ganz sanft frage ich:
"Brauchst du eine Umarmung?"
Er schüttelt den Kopf.
Nachdenklich lege ich den Kopf schief und denke nach. Ha! Ich habe eine Idee. Suchend krame ich in meiner Jackentasche und präsentiere Luki ein Raketenbrausebonbon auf meiner Handinnenfläche. 
"Schau mal, hier.", sage ich ganz leise, damit uns niemand hört. Im Kindergarten sind Naschis nämlich streng verboten. "Jeden Morgen gebe ich meinem Kind heimlich ein Raketenbrausebonbon. Das gibt Kraft für den Tag. Möchtest du auch eins? Du siehst heute aus, als könntest du auch ein bisschen Kraft brauchen."
Er zögert nur kurz, dann greift er nach dem Bonbon und schiebt es sich in den Mund. Ich sehe ihm in die Augen und sage etwas lauter und ziemlich nachdrücklich:
"Alles wird gut, Luki, ja? Das verspreche ich dir. Es wird immer alles gut, egal, was ist. Ich bin schon groß, ich weiß das!"
Mit diesen Worten erhebe ich mich schließlich, winke ihm noch einmal und will gehen. Plötzlich aber höre ich ihn mit zarter Stimme meinen Namen rufen.
"Hanne?", fragt er leise.
So heiße ich nicht, aber, warum auch immer, hat er mich irgendwann so genannt und seitdem nie wieder damit aufgehört.
"Ja?", antworte ich und wende mich ihm wieder zu.
"Meine Eltern haben vergessen mir etwas zu Essen mitzugeben.", sagt er so leise, dass ich es kaum verstehen kann.
"Bist du sicher?", frage ich ihn sanft.
Er nickt.
"Darf ich mal in deinen Rucksack gucken?", bitte ich ihn.
"Ja.", antwortet er.
Also öffne ich seinen Rucksack und starre in gähnende Leere. Ich starre eine halbe Sekunde zu lang, atme tief ein und versuche die Wut, die mich wie eine riesige Welle zu überrollen droht, zurückzudrängen. Dann sehe ich Luki lächeln an.
"Das ist gar kein Problem!", sage ich mit ruhiger Stimme. "Ich fahre schnell nach Hause, mache dir eine Brotdose und komme wieder. Ich brauche ungefähr fünfzehn Minuten. Machst du mir die Tür auf, wenn ich klingel?"
Luki nickt und ich flitze los.

Auf dem Weg nach Hause bin ich vieles gleichzeitig: Gestresst, weil ich zu spät zu einem Termin kommen werde. Traurig, weil ich mich selbst, Teile meiner Kindheit, in Luki wiederfinde. Und ich bin wütend. So, so wütend. Nicht auf meine Eltern, all das ist längst verjährt. Aber auf Lukis Familie. Weil ich sie kenne und es hasse, dass sie sich mehr für ihre Haustiere als für ihre Kinder interessieren. Es kostet mich regelmäßig all meine Selbstbeherrschung vor diesem fremden Kind wie selbstverständlich darüber hinwegzugehen, dass er eine Tüte Erdnussflips zum Frühstück mitbekommt, während alle anderen Kinder aus ihren mitgebrachten, zum Teil sehr liebevoll gestalteten, Brotdosen essen. Dass er stets das letzte Kind ist, das aus dem Kindergarten abgeholt wird. Auch an Tagen, an denen seine Eltern Urlaub haben. Und das er immer das einzige Kind ist, dass auf Kindergartenausflügen nicht von seinen Eltern begleitet wird. Dass er nie Regensachen dabei hat (weswegen an dem Kleiderhaken meines Kindes seit dem letzten Jahr nun immer zwei Garnituren hängen), fluchen kann wie eine Hafennutte und körperliche Zuwendung aufsaugt wie ein Schwamm.
Er ist mit seinen fünf Jahren noch klein, aber ich kann in seinen Augen lesen, dass er spürt, dass sein Leben anders ist als das anderer Kinder. Ich lese die Scham, die Angst, die Unsicherheit in seinen Augen. Ich sehe ihn. Und ich sehe mich, als Kind, in ihm. All diese Gefühle, die sich durch ihn hindurchtoben, kann ich fast körperlich fühlen. Und sie tun mir weh. Kein Kind sollte so etwas fühlen müssen. 

Zuhause angekommen, schmiere ich ein Wurst- und ein Käsebrot, schneide ein bisschen Gurke und einen kleinen Apfel, werfe alles in eine Brotdose, greife mir eine Regenjacke von der Garderobe und fahre schließlich wieder zum Kindergarten.
Dort angekommen, wickle ich die Brotdose in die Regenjacke meines Kindes und klingle. Ich habe Glück. Es ist weder ein Erzieher, der mir die Tür öffnet und mir die Regenjacke im vorauseilenden Gehorsam abnehmen will noch mein eigenes Kind, das sich über meine Anwesenheit wundern und mir Fragen stellen würde. Stattdessen schiebt Luki die Tür auf. Er sieht erleichtert aus. Ich überreiche ihm das Regenjackenpäckchen. Er rennt zu seinem Gaderobenplatz, wickelt die Brotdose mit ernstem Gesichtsausdruck aus der Jacke.
"Ich nehme mir die Dose später wieder aus deinem Rucksack raus, wenn ich zum abholen komme.", flüstere ich ihm zu. Ich habe nämlich so gar keine Lust auf eine Unterhaltung mit seinen Eltern oder irgendwelchen Erziehern darüber, ob mein Verhalten übergriffig oder unangebracht ist, "weil so kein Lerneffekt eintreten kann". Luki nickt und schiebt die Dose in seinen Rucksack. Dann lächelt er ein kleines bisschen, winkt mir und ich sehe ihm nach, wie er zum Spielen in irgendeinem Raum verschwindet. Hoffentlich bleibt das hier unser Geheimnis.

Kommentare

  1. Ja doch, ich wollte um diese Uhrzeit schon heulen. 🥺 Danke, dass Du nicht weggeschaut hast.

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    1. 'Tschuldigung.
      Betrifft ja auch einen Bereich, den ich bisher hier im Blog komplett ausgelassen habe. Aber es hat mich nicht losgelassen und deshalb musste ich es einmal aufschreiben. Um loslassen zu können. :-)

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  2. Mir blutet das Herz!! Danke!!!, dass du hingeschaut hast!

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    1. Mir auch.
      Ich glaube, niemand hätte daran gut vorbeigucken können.

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  3. Großartig, dass es liebevolle Menschen wie dich gibt!! ❤️

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    1. Danke...
      (Ach, aber das ist zuviel der Ehre...)

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    2. Nein, ist es nicht. Ich arbeite in der Kita und leider sind solche Heldinnen des Alltags Ausnahmefälle ❤️

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    3. Dann danke ich dir für die lieben Worte! :-)

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