Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Von Peter Pan

(Ein alter Post. Und eine kleine Blogger-Tadition seit 2013. Sorry.
Frohe Weihnachten. Passt auf euch auf.)

Über das Vermissen. 
Über Wunder. 
Und nicht zuletzt: Über die Liebe.
 

"Weißt du was man über Eisberge sagt?"
"Ob ich das weiß? Ich hab schon mal einen gesehen. Der wurde nach Texas runtergeschleppt als Trinkwasser. Womit sie nicht gerechnet hatten war der Elefant, der da drin eingefroren war. So ein Wuschliger, ein Mammut."

(Big Fish)

Manche Menschen bereichern das Leben mit einer solchen Selbstverständlichkeit, dass man sie viel zu leicht übersieht. Sie sind immer da, begleiten einen das ganze Leben und nur selten gibt es einen Moment, in dem man auf die Idee kommt, es könnte sie eines Tages nicht mehr geben. Schnell verdrängt man diese Möglichkeit. Denn was es bedeuten würde, würde dieser Fall eintreten und welche Konsequenzen es hätte, vermag man nicht zu ermessen. Mein Opa ist ein solcher Mensch. Wobei er eigentlich nicht mein „echter“ Opa ist, denn er selbst bekam – zu seinem Leidwesen – nie Kinder. Trotzdem hat er mehr Kinder als die meisten Menschen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass mein Opa Peter Pan ist. Nur in moppelig, mit kugelrundem Bauch. Kinder lieben Peter Pan. Nicht nur, weil er ihnen das fliegen beibringt. Sondern weil er ihnen die Welt so erklärt, dass sie sie verstehen. Mein Opa hat für mich nicht nur das getan. Er hat mir zugleich Rätsel aufgegeben, die ich bis heute nicht gelöst habe und mir gezeigt, dass die Welt voller Wunder ist. Es kommt nur auf den Blickwinkel an, aus dem man das Leben betrachtet.

„Hörst du die Glocken?“ flüstert Opa am Heiligabend und zwinkert mir verschwörerisch zu. Ich lausche. Dann schüttele ich langsam den Kopf. „Nein, ich höre nichts?“ sage ich. „Dann hör noch einmal hin. Du musst ganz leise sein und die Ohren spitzen!“ lächelt er. Ich überlege, wie man seine Ohren wohl spitzt und stelle mir vor, wie sie beim Lauschen ganz groß werden und die Form von Bleistiftminen annehmen. Ich versuche es noch einmal, ganz konzentriert mache ich es Opa nach, schließe die Augen und lausche in die stille Nacht hinein. Da, tatsächlich, ein kleines Klingeln, ganz leise. „Ich höre etwas!“ rufe ich atemlos und lege den Kopf in den Nacken, versuche es nochmal. „Es wird lauter?“ flüstere ich fragend zu Opa. „Ja!“, nickt er, „Das ist der Weihnachtsmann!“. Statt mich darüber zu freuen, läuft mir ein Schauer über den Rücken und ich drücke mich automatisch näher an Opa heran: Ich finde den Weihnachtsmann richtig gruselig. „Du musst keine Angst haben!“ sagt Opa wissend in unser Schweigen hinein, „Nachdem du deinen Wunschzettel an den Weihnachtsmann abgeschickt hast, habe ich den Wichteln noch einmal einen Brief geschrieben. Der Weihnachtsmann weiß, dass du brav warst!“. Dankbar sehe ich Opa an. So richtig beruhigt bin ich aber trotzdem nicht. Opa lacht laut und dröhnend, als er bemerkt, dass ich nicht mehr von seiner Seite weiche.

Später, als der Weihnachtsmann das Haus schon wieder verlassen hat, sitze ich völlig fasziniert vor meinem Berg an Geschenken und kann es kaum fassen, dass ich es geschafft habe, mein Gedicht fehlerfrei aufzusagen. Ich bin wirklich erleichtert, dass ich den Weihnachtsmann erst in einem Jahr wiedersehen muss. Plötzlich ruft Oma neben mir lächelnd: „Schau mal, Muschelmädchen, die Engel! Die Engel sind da!“ und zeigt auf das Wohnzimmerfenster, durch das tatsächlich zwei blondgelockte Engel hineinsehen. Wie verzaubert sehe ich zum Fenster. Einen Moment später löse ich mich aus meiner Starre, springe ich auf und laufe hin. Wir feiern im Obergeschoss, hier darf ich das Fenster nicht öffnen. Also lege ich meine Hand gegen die Scheibe und drücke meine Nase an das Fenster. „Opa?“, rufe ich, „Opa, guck mal, hier sind Engel!“. Noch immer schauen die beiden Engel hinein. Als ich blinzeln muss, sind sie plötzlich verschwunden. Ich drehe mich zu Oma um, mein Blick streift durch das Zimmer. „Wo ist Opa?“ frage ich und Oma zuckt mit den Schultern. Dann überfällt mich ein Geistesblitz: „Das war Opa, oder?“. Ohne ihr Zeit zu lassen, mir zu antworten, stürme ich aus dem Wohnzimmer, renne die Treppe ins Erdgeschoss hinunter und öffne die Terrassentür. „Opa?“ rufe ich, erhalte aber keine Antwort. Auf der Terrasse liegt Schnee. Zu meinem Erstaunen sind keine Fußspuren zu sehen. Echte Engel..? Plötzlich steht Opa hinter mir. „Was machst du da, Muschelmädchen?“, fragt er amüsiert, „Komm doch rein, es ist kalt hier draußen!“. „Aber…“, sage ich aufgeregt, „Opa, da waren Engel! Echte Engel!“. „Echte Engel?“ fragt er skeptisch. „Ja, Opa, echte Engel! Wo warst du denn?“. „Auf Toilette!“ antwortet er. Begeistert und neugierig zugleich frage ich: „Opa, gibt es Engel? Gibt es Engel wirklich?“. „Natürlich!“ brummt Opa ohne zu zögern, „Weißt du, Muschelmädchen, man sieht sie nur nicht so oft!“. „Warum nicht?“ frage ich weiter. „Weil man meistens nicht genau genug hinschaut.“, sagt er sanft, „Aber an Weihnachten schärft sich unser Blick für solche Dinge.“. Noch immer schauen wir beide auf die schneebedeckte Terrasse hinaus. Dunkel klingt das Geräusch schlagender Kirchenglocken zu uns. „Weißt du…“, fügt er leise hinzu, „An Weihnachten geschehen manchmal eben Wunder…“.

Opa hat mir viele Wunder gezeigt. Nicht nur an Feiertagen, wie Weihnachten, Ostern oder meinem Geburtstag. Das ganze Jahr über jagte er mit mir Wildschweine, machte Lagerfeuer und zeigte mir die besten Verstecke im Wald. Wir suchten gemeinsam die größten und schönsten Schätze, übernachteten in selbstgebauten Unterschlupfen und waren Agenten auf geheimer Mission. Manchmal, wenn wir Oma beim telefonieren belauschten, um herauszufinden, ob sie „echt“ war oder bereits von einer bösen Doppelgängerin ersetzt worden war, hörten wir sie sagen: „Ich fühle mich als hätte ich zwei Kinder.“. Das verstand ich nicht. Aber ich wusste dann, dass wir jetzt besser darauf warteten, dass sie zum Einkaufskorb griff und das Haus verließ, ehe wir gemeinsam den nächsten Unfug anstellten.

Es ist mir egal, dass ich nicht viel oberflächliche Fakten über das Leben meines Opas weiß, denn er hat mir etwas von sich mitgegeben, was ich als viel wesentlicher empfinde: Er hat mir gezeigt, auf welche Art man das Leben betrachten kann, wie wichtig und befreiend es sein kann, sich Phantastereien hinzugeben und das wir letztendlich selbst die Kontrolle darüber haben, wie hell oder dunkel unser Leben ist. Es mag sein, dass er seine Ecken und Kanten hat, sein Verhalten für den einen oder anderen Menschen nicht nachvollziehbar ist, dass ihn einige von denen für einen riesigen Idioten halten oder er tatsächlich „anders“ ist. Mir ist das egal. Ich weiß, wer mein Opa ist und – vor allem – wie er ist: Mein Opa ist ein gütiger, selbstloser und unglaublich liebevoller Mensch, der im Grunde genommen in seiner ganz eigenen Welt lebt, in einer Welt, in der er am Nordpol wohnt, Schokolade an Bäumen wächst und man mit Waschbären und Füchsen reden kann. Er hat nicht nur meinen Blick für das geöffnet, was man nur als Kind zu sehen vermag, sondern auch dafür gesorgt, dass ich seine Art, die Welt zu sehen, annehmen und mir beibehalten kann. Das ist alles andere als selbstverständlich. Ich hatte es nur eine Zeitlang vergessen.

Kommentare

  1. So jemand nicht nur in seiner Vergangenheit sondern auch immer noch im Herzen haben zu dürfen, ist wunder-, wunderschön. Und man merkt es Deinen Posts an, wie viel Liebe er Dir mitgegeben hat. Ich würde diese Geschichte auch nächstes Jahr gern wieder lesen

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    1. Was meinen Blog angeht, so wird dieser Post auch im nächsten Jahr in der Weihnachtszeit wieder hier zu finden sein. Es würde mich freuen, wenn du nächstes Jahr auch noch hier liest. :-)

      (Nur eines bedaure ich ein wenig: Das das Kind, was irgendwann einmal mein Kind werden wird, meinen Opa leider nicht mehr kennenlernen wird. Aber dann muss ich eben lernen, ihm mitzugeben, wie viele kleine und große Wunder es gibt.)

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  2. Das sind die Texte, wie ich sie liebe, bildhaft, bunt, zauberhaft...
    Und der 24. Dezember war ein ganz besonderer Tag, weil ich dich sozusagen wiedergefunden habe.

    Liebes Muschelmädchen, ich hatte zwar heute Besuch, davor und danach jedoch ausreichend Zeit, und hätte dir so viel mehr schreiben wollen, aber ich las dort etwas von dir... und dort... und da auch noch. War verzückt und konnte es kaum fassen, dass ich deine Zeilen lesen konnte.
    Und diese Geschichte war mir noch sehr vertraut. Schön, wenn sie immer wieder autaucht, so könnte ich dich glatt auch finden :).

    Für heute genug - schöne Feiertage noch von
    Rolf

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    1. Willkommen zurück, lieber Rolf. Es ist schön, dass du wieder da bist.
      Pass gut auf dich auf.
      Und genieß die Zeit zwischen den Jahren.

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