Von Otto

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Es ist kurz vor Weihnachten, als ich dein Angebot, mich in deine Wohnung zurückzuziehen, um etwas Ruhe zu finden, das erste Mal wahrnehme. Ich finde den Ersatzschlüssel dort, wo du es mir gesagt hast, und öffne deine Wohnungstür. Bereits während des Eintretens verursache ich vermutlich, bepackt mit diversen Tüten, mehr Chaos, als diese Wohnung jemals gesehen hat. Kichernd knipse ich ein Foto davon und frage mich, wie du wohl gucken würdest, wenn du mich jetzt sehen könntest. Und ob du wirklich glaubst, ich würde Ruhe in deiner Wohnung suchen. Während du auf Arbeit fleißig bist, habe ich stattdessen die Pflanzenläden deiner Stadt abgeklappert. Es ist kaum zu glauben, aber es war gar nicht so leicht, ein kleines Weihnachtsbäumchen zu finden. Offenbar steht man in deiner Stadt auf kunstschneebedeckte Zypressen. Die mag ich nicht. Also: Zypressen sind schon ganz hübsch, aber der Kunstschnee ist eben unecht und fürchterlich kitschig. Nach mehreren Versuchen habe ich in der hintersten Ecke d

Vom Muschelhaus


Früher waren es von meinem Bett aus bis zur Mitte eines gottverlassenen Weizenfeldes nur 950 Meter. Im Nachhinein kann ich nicht mehr sagen, wie oft ich mich in die Mitte dieses Feldes gestellt, mir den Wind um die Nase wehen habe lassen und mir unterdessen die Seele aus dem Leib geschrien habe.
Damals habe ich auch heimlich Geschirr gestohlen. Tassen, Untertassen, Teller, Schüsseln und Milchkannen. Sobald es dunkel genug war, habe ich dann meinen persönlichen Polterabend eingeläutet und alles an Geschirr, was ich über Tage oder Wochen angesammelt hatte, auf dem harten Asphalt zerdeppert, während ich dazu umher wild gesprungen bin, wie Rumpelstilzchen, das um sein Lagerfeuer herumtanzt. Meistens fanden diese kleinen Rituale ihren Höhepunkt darin, dass ich auf dem Weg nach Hause jede einzelne Laterne, die meinen Pfad säumte, austrat. Ich war stolz darauf, dass ich den Trick heraus hatte, sie mit einem einzigen Tritt ins Nirvana zu befördern. Und fand es herrlich, fast schon philosophisch, alles hinter mir in tiefe Dunkelheit zu tauchen.

Heute bin ich erwachsen. Wenigstens fast. Zumindest so erwachsen, dass ich kein Geschirr mehr klauen gehe und in der Regel auch nicht, wenigstens nicht absichtlich, Gemeindeeigentum beschädige. Wenn die Tage heute doof laufen, schwarz, schwärzer, am schwärzesten sind, dann schreie ich nicht mehr laut und stinkefingerzeigend "Fick dich!", sondern denke ein maximal angefressenes "Dann halt nicht!", bevor ich mich in mein Muschelhaus zurückziehe und die Welt aussperre. Aber an Tagen wie diesen wünsche ich mir trotzdem ein Feld, ein paar Untertassen und nur eine einzige Laterne. Die Laterne würde ich auch brennen lassen. Sinnbildlich. Ein bisschen Licht tut all der Rabenschwärze gut.

In diesem Sinne:
Dann halt nicht!
Erst morgen wieder.

Kommentare

  1. Ich habe mal von einer weisen Frau den Rat erhalten, wenn ich im Auto zur Arbeit fahre (was ich nicht tue, ich fahre öffentlich, das tut aber dem weisen Rat keinen Abbruch), einfach lauthals meinem Schmerz einen Ton zu geben. Das mache ich auch heute noch ab und an, ich gehe in den angrenzenden Wald dafür. Manchmal muss es raus, und es tut gut! Ich kann das nur empfehlen, der Seele tut es gut!

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    1. Den Trick setze ich manchmal mit Hilfe eines Kissens um. Aber das mit dem Auto ist auch eine super Idee, denn du hast recht, manchmal tut es einfach nur gut, die Gefühle rauszulassen. Diesen Rat nehme ich gerne an - vielen Dank!

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  2. Wenn man's SO sieht, war ich also schon als Kind "erwachsen": An kein einziges Mal kann ich mich erinnern, an dem ich allein auf der Weide oder am Bach nebenan geschrien hätte. Das hätte ich mich erstens nie getraut und zweitens es als zu unangemessen empfunden.

    Und natürlich hätten mir die Laternen auch viel zu leid getan, als dass ich sie hätte umtreten können^^. Zumal ich schon als Kind stets hätte sicherstellen wollen, dass die Laternen mir gutgesonnen sind, brauche ich sie doch noch, anbetrachts der Dunkelheit um mich herum.

    Dafür brülle ich heute im Auto unkontrolliert (zumindest für 2 Sekunden) das Lenkrad an, wenn andere Verkehrsteilnehmer mal wieder lebensgefährdend unterwegs sind.

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    1. Unangemessen? Warum unangemessen?
      Manchmal ist es doch ganz gut, die Kontrolle für einen Moment abzugeben?

      Deine Laternen-Zuneigung finde ich super und sehr sympathisch. Heute würden mir die Laternen vermutlich auch leidtun. Wahrscheinlich wäre ich sogar verschroben genug, um mich bei ihnen für mein Verhalten zu entschuldigen...

      Der Autotipp... Ja. Das ich darauf noch nicht selbst gekommen bin...

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    2. "Unangemessen", weil...laut und schreiend zu sein mir irgendwie nie zustand. Es hätte auch nicht gepasst zu der Situation, ich war lieber immer ganz still.

      Und ich ertappe mich noch heute dabei, wie ich das kurze Rumbrüllen im Auto ebenfalls als "eigentlich doch unangemessen" bewerte. Und mir vorwerfe^^.

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