Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Von einem besonderen Mann

„Wir gehen alle von Zeit zu Zeit verloren, manchmal, weil wir es selbst wollen, manchmal, ohne daß wir die Kontrolle darüber haben. Wenn wir dann gelernt haben, was unsere Seelen lernen mussten, zeigt sich der Weg ganz von allein. Manchmal sehen wir den Weg, und wir gehen zu weit oder nicht weit genug, aus Angst, Wut oder Trauer. Manchmal wollen wir verschwinden und umherirren, manchmal nicht. Manchmal finden wir den Weg ganz allein. Aber was auch geschieht, wir werden immer gefunden.“

(Cecelia Ahern – Vermiss mein nicht)

Obwohl ich mich in einer Menschentraube über die Straße, in Richtung des Bahnhofs, bewege, fällt mir der Mann, der in der Eingangshalle, in der Nähe des Obst- und Gemüsestands, steht, sofort auf. Seltsam verloren steht er da, wirkt desorientiert und fast verzweifelt. Obwohl er nicht wirklich schlank ist, wirkt er unnatürlich klein, beinahe in sich zusammengefallen. Der Mund in seinem rundlichen Gesicht ist zu einem schmalen Strich zusammengekniffen, als ob er sich bemüht, die Fassung zu bewahren. Seine Augen schauen in Richtung der Menschenmasse, in der ich mich befinde, aber er scheint sie nicht zu sehen, sein Blick verliert sich auf dem Weg dorthin. Ich glaube, kleine Fältchen, um die Augenpartie herum, erkennen zu können – aber was kann ich schon sehen, hier, so weit von ihm entfernt.
Während ich mich ihm nähere, beobachte ich ihn weiter. Seine Arme hängen an ihm herunter, als würden sie nicht zu seinem Körper gehören. Ganz normal ist er angezogen, er trägt eine helle Jeans und ein dunkles T-Shirt. Es ist Frühling und das Wetter fühlt sich an, als wäre es schon Sommer. Der Himmel ist blau und die ersten Sonnenstrahlen legen sich warm auf die Haut. Schön ist es.
Doch das Wetter lenkt mich nicht lange ab. Schnell ruht mein Blick wieder auf dem Mann in der Eingangshalle des Bahnhofs, nur noch eine kleine Straße und eine rote Ampel trennen uns. Irgendetwas fasziniert mich an ihm. Aus all den Menschen, die mich umgeben, sticht er heraus – nur kann ich den Grund dafür nicht recht erfassen: Vielleicht ist es, weil er wirkt, als gehöre er nicht hier her. Er wirkt seltsam deplatziert. Aber eigentlich ist das falsch formuliert. Denn eigentlich vermittelt seine ganze Erscheinung den Eindruck, als wäre er gar nicht da, als wäre er unsichtbar. Nicht einmal die Menschen, die in ihrem Bemühen, die nächste Bahn noch zu erreichen, eilig versuchen, ihm auszuweichen, nehmen bewusst Notiz von ihm, auch nicht, wenn sie ihn anstoßen und ihn schwanken lassen, wie ein Fähnchen im Wind. Aber auch er scheint sie nicht zu realisieren. Steht nur so da, inmitten von Menschen, und schaut ins Nichts.
Als die Ampel grün wird, lasse ich mich, von den Menschen um mich herum, treiben. Ich verliere den Mann aus den Augen, bis ich ihn plötzlich direkt vor mit sehe und abrupt versuche, anzuhalten, um nicht frontal in ihn hineinzulaufen. Für eine Sekunde stehen wir einander vollkommen reglos gegenüber. Sein ausdrucksloser Blick bricht sich an mir und verläuft sich in der Umgebung. Ich folge seinen Augen, kann aber nicht erkennen, wohin er schaut. Jetzt bemerkt er mich. Erneut sieht er mich an, auf seinem Gesicht zeichnet sich Erstaunen ab. Seine Augen fixieren mich nun, sein Blick ist mit einem Mal so scharf, dass ich das Gefühl habe, er schaut mir bis tief in die Seele. Ich will mich entziehen, kann den Augenkontakt aber nicht unterbrechen. Jemand rempelt mich hart von hinten an und schiebt mich unsanft in die Arme des Mannes, die dieser schnell und hilfsbereit ausbreitet. Augenblicklich zaubert diese ungeplante, fremde Berührung mir eine Gänsehaut. Schnell löse ich mich von ihm, murmle ein „Danke!“ und taumle einige, kleine Schritte zurück, bringe Sicherheitsabstand zwischen uns. Ich bin mir unsicher, ob mir der Mann Angst macht oder ob er mir sympathisch und vertraut erscheint. Verwirrt von der Situation versuche ich ein entschuldigendes Lächeln, welches jedoch ziemlich schief gerät, und versuche, mich an ihm vorbeizudrücken. Er greift nach meiner Hand.
„Willst du Weintrauben?“ fragt er, völlig zusammenhangslos.
Als hätte ich mich an ihm verbrannt, versuche ich, ihm meine Hand zu entziehen. Sein Griff ist eisern und als er mich nicht loslässt, bekomme ich Panik, obwohl wir uns inmitten von Menschen befinden. Als er meinen Gesichtsausdruck sieht, erschrickt er:
„Schon gut, schon gut!“, ruft er, lässt mich los und vollführt eine abwehrende Geste mit beiden Händen, „Entschuldige, ich wollte dir keine Angst machen! Wirklich nicht!“. Mir fällt auf, dass seine Hände wie Espenlaub zittern. „Ich wollte nur… Willst du vielleicht Weintrauben? Bitte, kann ich dir Weintrauben kaufen?“ fragt er.
Ich habe noch keinen Ton gesagt. Was ist mit diesem Mann? Irgendetwas stimmt nicht.
„Ich habe keinen Hunger…“ sage ich leise.
„Willst du vielleicht etwas anderes?“ fragt er mich und deutet fahrig auf den Gemüse-und Obststand, der sich einige Meter von uns entfernt befindet. „Bitte, such dir etwas aus!“ fast flehend legt er seine Hände aneinander.
„Ich…“, als ich ihm antworten will, schlägt er seine Hände vor sein Gesicht.
„Oh Gott, ich habe dir Angst gemacht! Ich habe dir wirklich Angst gemacht!“. Einen Moment lang befürchte ich, dass er gleich in Tränen ausbricht. Er wirkt vollkommen durcheinander.
„Entschuldige!“ wiederholt er sich. Dann greift er in seine Hosentasche. „Hier, schau!“ ruft er aus, „Nimm das!“. Er streckt mir sein Portemonnaie hin. Ich wehre ab:
„Ist schon gut…“, sage ich. Unauffällig setze ich zum Gehen an. Ich fühle mich unsicher, weiß nicht recht, was ich von meinem Gegenüber halten soll. Der Mann sieht mich an, registriert, dass ich mich an ihm vorbeidrücken will. Blitzschnell öffnet er sein Portemonnaie und zieht etwas heraus:
„Hier!“, sagt er, „Das ist mein Personalausweis! Bitte, sieh ihn dir an.“ Er bemüht sich so inständig um mich, dass ich nur zugreifen kann. Ich lese seinen Namen. Herr D. heißt er und ist 56 Jahre alt. „Ich bin nicht verrückt...“ sagt er leise.
„Ist okay, wirklich…“, erwidere ich und bin plötzlich ganz ruhig, „Aber ich möchte wirklich keine Weintrauben…“.
„Möchtest du vielleicht etwas anderes? Einen Apfel? Oder… eine Birne?“ fragt er weiter.
„Das ist wirklich lieb von ihnen!“, sage ich, „Aber: Nein, danke!“.
„Ich will dir nur etwas Gutes tun!“, flüstert er, „Nur etwas Gutes.“. Er legt den Kopf schräg: „Willst du vielleicht Geld? Ein bisschen Kleingeld habe ich noch…“. Jetzt muss ich doch lächeln: Sie ist zu bizarr, diese Situation.
„Nein, wirklich, danke, ich will gar nichts!“. Er hält inne und ist plötzlich ganz still. So traurig sieht er in diesem Moment aus, dass es mir plötzlich total leid tut, alles abgelehnt zu haben. Als er dieses Mal nach meiner Hand greift, entziehe ich sie ihm nicht. Ich lasse mich von ihm, durch die vielen Menschen hindurch, zum Obststand führen und sage nichts, als er schließlich ein halbes Kilo Weintrauben bestellt. Er nimmt die weiße Plastiktüte in Empfang und wie automatisch machen wir uns auf den Weg zu dem Gleis, von dem mein nächster Zug fahren wird. Den letzten habe ich bereits verpasst.
Wir lassen uns auf einer Bank nieder und als er mir einen Stängel Weintrauben hinhält, greife ich zu. Eine Zeitlang schweigen wir, genießen die süßen Trauben und lassen unsere Gedanken schweifen. Das Leben, das um uns beide herum tobt, blenden wir vollständig aus. Mit einem Male ist sie gar nicht mehr so seltsam, die Situation. Vielmehr erscheint sie notwendig, wenn nicht gar selbstverständlich. Und irgendwann beginnt er zu erzählen:
„Weißt du, es war vormittags. Da kam plötzlich dieser Anruf, vielleicht 11.15 Uhr oder so, und meine Frau sagte, wir müssen zur Schule, irgendetwas sei dort passiert, aber man wisse noch nicht genau was. Und unsere beiden Söhne gehen doch dorthin. Und dann sind wir da hin. Zur Schule, meine ich. Und da standen so viele Schüler, aber… aber wir haben sie einfach nicht gefunden. Unsere Söhne. Und überall haben Kinder geweint und da war so viel Polizei und Krankenwagen und wir haben sie einfach nicht gefunden. Sie waren da einfach nicht.“ Seine Stimme klingt ganz erstickt, er zittert. „Sie waren einfach nicht da…“
Fast eine halbe Stunde lang sitzen wir dort, auf der Bank, und ich höre seiner Erzählung zu. Ich verstehe nicht alles, weil er sehr durcheinander ist und viele Dinge aus dem Kontext herauslöst, keinen roten Faden verfolgt. Die Worte, die ihm aus dem Mund schlüpfen, reihen sich zusammenhangslos aneinander und werden zum Spiegel seines Gemütszustandes.
„Es geht ihnen ja gut. Ja, es geht ihnen gut. Dem Himmel sei Dank. Oh Gott, ich wüsste nicht, was ich täte, wenn meine Söhne… Ich… Ich wüsste nicht… Wenn…“. Seine Stimme ist jetzt nur noch ein Flüstern: „Ich musste einfach da weg. Weg aus dieser Stadt. Weg von meiner Familie. Es ist alles anders jetzt. Es – dieser Tag – hat alles verändert. Wir müssen einfach mehr Gutes tun. Mehr Gutes…“ Irgendwann versiegt sein Redeschwall und er verstummt. Ich muss mir auf die Lippen beißen, um mir nicht zu sehr anmerken zu lassen, wie sehr mich seine Erzählung berührt. Obwohl wir in der Sonne sitzen, fröstelt es mich. Ich habe die Bilder im Fernsehen gesehen. Aber auf diese Art – in dieser seltsamen Begegnung – damit in Berührung zu kommen, ist noch einmal etwas ganz anderes. Es ist um ein vielfaches realistischer, näher, bedrückender. Und verzweifelter. Es ist der 29. April 2002. Drei Tage nach dem Amoklauf am Gymnasium in E.
Als mein Zug einfährt, erhebt er sich ganz selbstverständlich. Er ist nun ganz ruhig, stellt sich vor mich, zieht mich von der Bank hoch und nimmt meine Hand in seine beiden. Er reicht mir die Tüte mit den Weintraueben und sagt:
„Du musst jetzt gehen. Ich wünsche dir alles, alles Gute!“
„Das wünsche ich ihnen auch!“, sage ich und blicke ihm dabei ganz gerade in die Augen.
Während ich einsteige, bleibt er auf dem Bahnsteig stehen und lässt mich nicht aus den Augen. Als er bemerkt, dass auch ich ihn ansehe, versucht er ein schiefes Lächeln. Ich nicke ihm zu. Der Zug fährt langsam an und ich sehe, dass ihm Tränen die Wangen hinunterlaufen.
Bis heute denke ich, dass ich irgendetwas Kluges hätte sagen müssen. Dass ich es nicht getan habe, weil ich erst 16 Jahre alt war und es nicht besser wusste, hört sich nach einer ziemlich schlechten Ausrede an. Was bleibt, ist die Erinnerung an ihn und der Wunsch danach, die Welt im Kleinen zu verändern. Es gibt so viel Gutes zu tun.

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