Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Von einem Brief an einen Fremden


„Weil Menschen eben keine Zahlen sind. Sie sind eher wie Buchstaben. Und diese Buchstaben wollen sich zu Geschichten verbinden. Und Dad hat gesagt, Geschichten muss man mitteilen.“

(Extrem laut & unglaublich nah)


Lieber H.,

ob du wohl auch ab und an darüber staunst, wie seltsam das Leben ist? Was für unglaubwürdige, fast absurde Geschichten es manchmal schreibt? Denn das tut es doch, nicht wahr?

Hast du dich mal gefragt, warum es Hüpfburgen-Feste gibt? Warum sich im Dezember Frauen in knappen Kostümen auf den Weihnachtsmärkten die Beine in den Bauch stehen und frieren, während sie versuchen, Zuckerwatte zu verkaufen? Stellst du dir auch manchmal vor, dass wir Menschen wie Ameisen sind? Wunderst dich darüber, dass wir uns an manchen Tagen so groß fühlen, während wir an anderen Tagen auf die Größe eines Stecknadelkopfes schrumpfen? Spielst du ein Instrument, H.? Trägst du gleichfarbige Socken? Ich frage mich, wo du geboren wurdest? Vergisst du manchmal nach rechts und links zu schauen? Gehst du dann und wann bei Rot über die Straße? Bist du ein Rebell? Wohin ging deine weiteste Reise? Was war das Verrückteste, das du jemals getan hast? Welche Erinnerung ist dir die liebste? Was ist der größte immaterielle Schatz, den du besitzt? H.? Bist du noch da?

Ich habe heute einen langen Spaziergang gemacht, H. Den Fluss, der sich durch meine Stadt zieht, bin ich entlanggelaufen, habe mir den warmen, weichen Wind um die Nase wehen und den Kopf auslüften lassen. Wie ein kleines Kind bin ich auf einen Baum geklettert, habe mich auf einen der Äste gesetzt und meine Füße hinunterbaumeln lassen, so, dass sie über dem Wasser schwebten. Ich hatte ein bisschen Angst dabei, meine Schuhe zu verlieren – wenigstens so lange, bis mir einfiel, dass ich ja jetzt erwachsen bin und mir nasse Schuhe gar nichts mehr ausmachen müssen. In diesem Moment habe ich überlegt, mich einfach ins Wasser gleiten zu lassen.

Wann hast du das letzte Mal etwas Unüberlegtes getan, H.? Pflegst du dein inneres Kind und gibst ihm Freiraum? Magst du das Leben? Oder nimmst du es manchmal zu ernst? Lächelst du häufig? Wie hört es sich an, wenn du lachst? Magst du Seifenblasen auch so gerne? Träumst du viel? Fühlst du dich manchmal allein? Findest du es auch so komisch, dass wir uns inmitten von allem so verloren fühlen können? Geht es dir gut? Was erfüllt dich? Liest du gerne? Zeichnest du? Arbeitest du mit deinen Händen? Was ist deine schönste Kindheitserinnerung? Was war dein erster Berufswunsch? Welchen Wunsch hast du dir erfüllt? Was willst du in diesem Leben unbedingt noch tun? Was ist das Beste, das du jemals getan hast? Welches deiner Gefühle trägt dich durch dein Leben? Wo willst du hin? H.? Wirst du geliebt? Und liebst du selbst genug?

Auf dem Rückweg in die Stadt, habe ich mich an den Strand gesetzt, H. Ich habe die Strömung beobachtet und zwei Erpel, die um eine Ente gebuhlt haben. Während ich dort saß, hat es angefangen zu regnen. Erst in kleinen, fast weichen, später in riesengroßen Tropfen. Regen macht mir nicht aus, musst du wissen. Ich trotze ihm gerne und halte ihm mein Gesicht sogar hin. Ich mag das pritselige, nasse Gefühl auf der Haut und die Gänsehaut, die es mir verursacht. Besonders wenn es, so wie heute, sehr windig ist. Wenn der Wind durch die Bäume, die Gräser und das Schilf fährt. Wenn er alles, was mich umgibt, in ein großes, grünes Rauschen taucht. Wenn er mir das Gesicht kühlt und mir ein gesundes Rot auf die Wangen zaubert. Das ist schön. Ich spüre mich dann bis in die Fingerspitzen.

Gehst du auch manchmal spazieren, H.? Magst du die Natur? Trinkst du viel Alkohol? Schnarchst du? Bist du tätowiert? Ich frage mich, ob du Hausschuhe trägst und wie du wohl lebst? Hast du viele Freunde? Gehst du gerne ins Kino? Was treibst du hinter deiner geschlossenen Wohnungstür? Bist du schon einmal auf einem Bein eine Treppe hinuntergehüpft? Wann hast du das letzte Mal so sehr kichern müssen, dass du Tränen in den Augen hattest? Und worüber hast du gelacht? Bist du traurig, H.? Was fehlt dir? Was würdest du ändern, wenn du es könntest? Welche Geschichten kannst du deinen Enkeln erzählen? Gibt es etwas, dass du nie gesagt hast, aber immer sagen wolltest? Wann hast du das letzte Mal um Verzeihung gebeten? Und das letzte Mal selbst verziehen? Was dich wohl leicht macht und was schwer? Was ist deine liebenswürdigste Marotte? Und worin liegt deine größte Schwäche? Wie viele Jahre schreibst du schon Briefe auf deiner Schreibmaschine? Ich frage mich, wer du bist. Wer bist du, H.?

Ich mag Menschen, H., ich bin chronisch neugierig und immer wissbegierig. Fassaden sind langweilig, spannend wird es erst dahinter. Aber was ich nehme, bin ich auch gerne bereit zu geben. Meinst du, du wirst mir ein paar meiner Fragen beantworten? Oder ist das in etwa so wahrscheinlich, wie dreimal an einem Tag eine Flaschenpost des gleichen Absenders zu finden? Und jetzt sei ehrlich: Ist das nicht völlig absurd?
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Nummer (1) habe ich … gefunden, Nummer (2) … und Nummer (3) am …


Ich hoffe, du bist glücklich, H.


Windlicht

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