Posts

Von Otto

Bild
Es ist kurz vor Weihnachten, als ich dein Angebot, mich in deine Wohnung zurückzuziehen, um etwas Ruhe zu finden, das erste Mal wahrnehme. Ich finde den Ersatzschlüssel dort, wo du es mir gesagt hast, und öffne deine Wohnungstür. Bereits während des Eintretens verursache ich vermutlich, bepackt mit diversen Tüten, mehr Chaos, als diese Wohnung jemals gesehen hat. Kichernd knipse ich ein Foto davon und frage mich, wie du wohl gucken würdest, wenn du mich jetzt sehen könntest. Und ob du wirklich glaubst, ich würde Ruhe in deiner Wohnung suchen. Während du auf Arbeit fleißig bist, habe ich stattdessen die Pflanzenläden deiner Stadt abgeklappert. Es ist kaum zu glauben, aber es war gar nicht so leicht, ein kleines Weihnachtsbäumchen zu finden. Offenbar steht man in deiner Stadt auf kunstschneebedeckte Zypressen. Die mag ich nicht. Also: Zypressen sind schon ganz hübsch, aber der Kunstschnee ist eben unecht und fürchterlich kitschig. Nach mehreren Versuchen habe ich in der hintersten Ecke d

Vom Schmerzgedächtnis

Ich lasse die Statusmeldungen bei W.hatsA.pp durchlaufen und stolpere darüber, dass T. Bilder veröffentlicht hat. Das trifft mich, nach Jahren der Stille, unerwartet. Zugleich ist der Zeitpunkt fast schon lächerlich passend, weil ich in letzter Zeit oft an ihn denke. Denn ich lerne an H. wie tief die Verletzungen sind, die T. mir zugefügt hat. Seit T. ist H. der erste Mensch, dem ich es gestatte, so tief in mich hineinzusehen. Das ist irgendwie leicht, weil er so liebevoll und gut zu mir ist und andererseits ist es schwerer denn je, weil ich jederzeit erwarte, an den Punkt zu stoßen, an dem er mich zurückweist. Ich erwarte verbale Verletzungen und Ablehnung meiner Person in vorauseilendem Gehorsam. Der Glaube daran, das etwas wirklich gut sein kann ist mir abhanden gekommen. Ich genieße die Zeit, die wir miteinander verbringen. Aber ich warte auf das Ende. Jeden Tag. Ich vermute, die Bilder aus T. Status' sind aus seinem Bus heraus aufgenommen. Vielleicht auch nicht, aber sie fühle

Von Weihnachten

Weil Corona, bei Teilen dieses Haushaltes, erst am abklingen ist, fällt Weihnachten für all die Menschen, die es hier verbringen wollten, aus. Trotzdem beschließen wir, in den nahe gelegenen Nutztierpark zum Gottesdienst im Freien zu fahren, um wenigstens ein bisschen Weihnachtszauber zu erhaschen. Und der lässt tatsächlich nicht lange auf sich warten: Zwischen freilaufenden Eseln, Ziegen, Hühnern und Gänsen stehen wir - natürlich mit ausreichend Abstand - mit ungefähr hundert anderen Menschen vor einer spartanisch gezimmerten Bühne, trinken süßen Tee und lauschen dem Pfarrer. Der Pfarrer ist ein unscheinbarer Mann, nickelbebrillt und jung, ziemlich austauschbar, aber wunderbar leidenschaftlich. Es ist unmöglich nicht zu spüren, wieviel Herz in seinen Worten liegt. Seine Predigt - nein, sein kompletter Gottesdienst - ist modern, Teile davon haben, auch aufgrund des Rhythmus' in dem sie vorgetragen werden, regelrechten Poetry Slam-Charakter. Das mag ich sehr. Am besten aber gefällt

Vom Küssen

"Gib mir die Zeit für einen ehrlichen Kuss, so wollen wir uns küssen, wenigstens am Schluss: Es wird ein Kuss sein, der alles verzeiht, der alles vergibt und uns beide befreit. Du musst ihn mir schenken,  ich bin zwar ein Dieb, doch gestohlen ist er wertlos und dann brauch' ich ihn nicht." (Die toten Hosen: Der letzte Kuss) Kein Sex. Wir sind sogar voll bekleidet. Du liegst auf deinem Sofa und ich sitze auf dir. Ohne hinzuschauen weiß ich, dass mein Rock längst über meine Hüften gerutscht ist. Ich spüre dich bei jeder Bewegung unter mir. Das ist so verführerisch.  Und du küsst mich. Du küsst mich wie ein Ertrinkender. Weitestgehend kontrolllos, gierig und hart. Leidenschaftlich. Immer mal wieder spüre ich, wie die Angst in mir hochbrandet. Einmal gebe ich dem Drang, aufzuspringen, fast nach. Aber dann erinnere ich mich daran, dass du es bist, der hier ist. Ich denke an deinen Gesichtsausdruck, als du mir ein paar Stunden zuvor gezeigt hast, dass die Wohnungstür offen ist

Vom Seilbahnmoment

Bild
" Wir wollen einfach weg und kommen nie mehr zurück, auch wenn ich weiß, es klingt viel zu verrückt: Sie fällt hin, wo sie will, weil die Liebe so ist -  ich hab dich mein halbes Leben vermisst." (Clueso, Elif: Mond)   Wir treffen uns, irgendwo auf einem Parkplatz an einer Landstraße, und laufen durch ein Naturschutzgebiet. Wir laufen, um ganz ehrlich zu sein, damit wir nicht küssen. Oder berühren. Oder vögeln. Laufen als Alternative zu all den Dingen, die wir am liebsten tun würden. Und von denen fällt uns eine ganze Menge ein. Trotzdem versuchen wir, nur miteinander zu sein. Und auch das ist sehr, sehr schön und weitaus mehr, als ich dachte, was jemals zwischen uns passieren wird. Ich kenne den Spielplatz, an dem uns unser Weg gleich vorbeiführen wird. Und noch bevor du weißt, dass es dort überhaupt eine Seilbahn gibt, weiß ich, dass du mit ihr fahren wirst. Weil du an mir magst, übrigens ganz im Gegensatz zu dem sehr erwachsenen Mann, dass ich nur halb-bis-gar-nicht-e

Vom Kaffee und vom Leben

Irgendwann als Jugendliche las ich mal ein Buch - ich glaube, es war "Gangs of New York" von Herbert Asbury - in dem jemand sagte, er würde seinen Kaffee nur schwarz trinken, damit er nichts vermissen müsse, gäbe es mal keinen Zucker oder keine Milch. Ich fand das damals ziemlich nachvollziehbar und auch ein bisschen cool. Deshalb habe ich die Geschichte, auch hier im Blog, gerne erzählt und meinen Kaffee ebenfalls lange schwarz getrunken. Heute, viele Jahre später, fällt mir dieser Spruch wieder ein. Und zum ersten Mal fällt mir auf, wie blödsinnig er ist. Mittlerweile trinke ich meinen Kaffee mit Milch. Täglich und immer. So liebe ich ihn. Und genauso wie ich meinen Kaffee trinke, lebe ich nun auch mein Leben:  Es ist nicht gut, prophylaktisch auf Dinge zu verzichten, weil man sie irgendwann mal missen könnte, wenn sie nicht mehr sind. Ich genieße die Dinge heute und koste sie, möglichst bewusst, aus, weil ich nicht weiß, ob es ein Morgen gibt. Wenn es aber kein Morgen gibt

Von der Buckelei

Wir wollen spazieren gehen. "Sollen wir was mitnehmen?", frage ich den Mann. Er kennt mich lange genug, um zu wissen, dass ich damit eine Thermoskanne Kakao und Kekse meine. "Von mir aus müssen wir nichts mitnehmen.", antwortet er schulterzuckend. Ich finde das irgendwie komisch. Deshalb frage ich ihn, nachdem ich ein paar Minuten darüber nachgedacht habe, warum er nicht will, dass wir etwas mitnehmen. "Das ist immer so viel Vorbereitung.", sagt er, "Und dann müssen wir den ganzen Kram einpacken, mitnehmen und durch die Gegend buckeln."  Ich muss ganz schön schlucken. Weil: Das vorbereiten, einpacken und mitnehmen übernehme eigentlich immer ich. Und das der Mann den Kram tragen muss, kommt auch eher selten vor. "Das ist ganz schön gemein.", erwidere ich irgendwann leise. Das hier, das kann ich nicht einfach so schlucken. "Ich mache das - Kakao kochen und Kekse einpacken - damit wir eine schöne Zeit haben. Für uns." Der Mann an