Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Von Otto

Es ist kurz vor Weihnachten, als ich dein Angebot, mich in deine Wohnung zurückzuziehen, um etwas Ruhe zu finden, das erste Mal wahrnehme. Ich finde den Ersatzschlüssel dort, wo du es mir gesagt hast, und öffne deine Wohnungstür. Bereits während des Eintretens verursache ich vermutlich, bepackt mit diversen Tüten, mehr Chaos, als diese Wohnung jemals gesehen hat. Kichernd knipse ich ein Foto davon und frage mich, wie du wohl gucken würdest, wenn du mich jetzt sehen könntest. Und ob du wirklich glaubst, ich würde Ruhe in deiner Wohnung suchen.

Während du auf Arbeit fleißig bist, habe ich stattdessen die Pflanzenläden deiner Stadt abgeklappert. Es ist kaum zu glauben, aber es war gar nicht so leicht, ein kleines Weihnachtsbäumchen zu finden. Offenbar steht man in deiner Stadt auf kunstschneebedeckte Zypressen. Die mag ich nicht. Also: Zypressen sind schon ganz hübsch, aber der Kunstschnee ist eben unecht und fürchterlich kitschig. Nach mehreren Versuchen habe ich in der hintersten Ecke des verschrammelten Baumarktes eine kleine Fichte gefunden. Die platziere ich jetzt, auf einer roten Serviette, mittig auf deinem Holztisch im Wohnzimmer. Zwei Lichterketten, ein großes Paket Christbaumkugeln und ein Päckchen Holzschmuck später steht er da: der perfekte kleine Weihnachtsbaum. Unter ihm liegt ein kleines Geschenk, das du erst an Weihnachten öffnen wirst, und vor ihm eine Nachricht für dich:

"Frohe Weihnachten, lieber H. Als Weihnachtsmuffel darfst du das kleine Bäumchen natürlich entsorgen, wenn dir das zu viel Weihnachten ist. Oder du stellst ihn in den Keller. Dann können wir ihn, wenn wir uns das nächste Mal sehen, irgendwo einpflanzen. Höchst illegal sozusagen. :-)

Falls dir aber ein wenig Weihnachtszauber gut tut und falls dein grüner Daumen das Bäumchen Weihnachten überleben lässt: Pflanzen wir ihn dann trotzdem irgendwo ein?"

Bevor ich deine Wohnung wieder verlasse, verbaue ich in dem Bücherregal in deinem Wohnzimmer noch eine Wichteltür. Natürlich samt Tannenbaum, Geschenken, Besen, Schuhen und allerlei anderen Krimskrams über den ein Wichtel verfügt. Außerdem verstecke ich - manchmal lächelnd, viel öfter aber noch leise vor mich hinkichernd - 47 Miniatur-Enten, die kleine Weihnachtsmützen tragen. Ich weiß nicht genau, ob ich dich damit in den Wahnsinn treiben oder zum Lächeln bringen werde. Aber ich mag den Gedanken, dass du an mich denkst, wann immer du eine der Enten findest. Unter deiner Kaffeetasse. Im Kühlschrank. In deinen Schuhen. Auf deinen Fußleisten. Auf deinen Bilderrahmen. In einer Pfütze auf dem Balkon. Auf dem Fensterbrett. In den kleinen Holzversätzen deines Esstisches. Im Trinkhorn. Auf den Essstühlen. In den Griffen deiner Flurschränke. In der Kapuze deines Pullovers. Einfach überall ziehen kleine zipfelbemützte Enten ein.

Einige Wochen später haben uns Corona und andere Unwägbarkeiten fest im Griff. Obwohl es vermutlich wenig gibt, was wir uns beide mehr wünschen, finden wir einfach nicht zusammen. Wir sind abwechselnd zu krank oder zu beschäftigt, um einander zu treffen. Für uns beide ist das eine schwierige Zeit. Du, dem irgendwann mal eingeredet wurde, dass er nicht schreiben kann und nur unzureichende Worte findet, und ich, die gefühlt den Kontakt zu dir verliert, wenn du mal wieder an Worten sparst. Du bist für mich der erste Mensch, bei dem Worte es nicht wenigstens zeitweise vermögen, die körperliche Anwesenheit zu ersetzen. Ich muss dir regelmäßig - lieber öfter, als zu selten - in die Augen sehen können, um in Kontakt bleiben und dich fühlen zu können. Und ich muss lernen, dass ich dir nicht unwichtig bin, nur weil du nicht schreibst. Unnötiges Schreiben liegt dir nur bedingt - du kannst es, aber im Gegensatz zu mir liebst du es nicht. Du bist ein Mann der Taten. 

Also schmückst du eines Tages unser Weihnachtsbäumchen ab, klemmst ihn dir unter den Arm und schenkst ihm irgendwo auf einer extensiven Fläche im Stadtpark, ganz in der Nähe deiner Lieblingsparkbank, die Freiheit. Dabei schützt du unser Bäumchen mit einem eigens besorgten Verbissschutz, damit es nicht von Rehen verspeist werden kann, und kennzeichnest es mit einer der kleinen Enten, die ich in deiner Wohnung versteckt habe. Als du mir ein Foto sowie eine Standortmarkierung davon schickst, bin ich zunächst hin- und hergerissen: Einerseits bin ich ein bisschen traurig, weil es uns nicht gelungen ist, das Bäumchen gemeinsam zu vergraben. Andererseits sehe ich, mit welcher Hingabe du unserer Fichte ein neues Leben geschenkt hast und kann die Zuneigung, die in deiner Handlung mitschwingt, so intensiv spüren, dass sie jedes andere Gefühl überdeckt und sich sanft in mein Herz schleicht.

Einige Tage später suchen wir nach einem Namen für unser Bäumchen. Wir nennen den Fichterich schließlich Otto. Und wann immer ich Otto in der Freiheit besuche, muss ich lächeln, weil ich mich dir dann noch ein wenig näher fühle. Ich fühle mich so geborgen in deiner Herzenswärme, H. Ich wünschte, ich könnte dieses Gefühl konservieren. 







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