Vom Zufall

Wir verbringen Weihnachten in meiner alten Unistadt Magdeburg. Heute Abend wollten wir auf den Weihnachtsmarkt, an unserem früheren Lieblingsglühweinstand, Glühwein trinken. Es ist nur einem glücklichen, kleinen Zufall geschuldet, dass meine Familie heute Abend nicht dort war. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir unter den Verletzten oder Toten gewesen wären, wäre hoch, denn mein Lieblingsglühweinstand ist auf dem Video, das durchs Netz geistert und zeigt, wie das Auto über den Weihnachtsmarkt gesteuert wird und reihenweise Menschen erfasst, gut zu sehen. Seit Stunden steht der Hubschrauber über der Innenstadt. Ab und zu hört man noch vereinzelt Sirenen. Die Straßenbahnen fahren leer. Und trotzdem ist es auf einmal, als ob Magdeburg den Atem anhält. Es ist zu still. Es ist furchtbar. Und ich bin irgendwie konfus, komme nicht zur Ruhe. Vielleicht liegt das auch daran, dass mein Handy permanent piept. Es haben doch deutlich mehr Menschen mitbekommen, wo wir die Feiertage verbringen, als ich ...

Von der Nächstenliebe

Triggerwarnung: 
Bin ja eigentlich nicht so für Triggerwarnungen, aber heute habe ich nur harten Stoff, den ich mir von der Seele schreiben will. Und vielleicht musste ich beim Schreiben auch ein bisschen weinen. Also... Die folgenden Zeilen handeln vom Thema "stille Geburt".


Du hast unser Leben nur kurz bereichert, aber wir danken dir für jede Sekunde. Wir haben dich unendlich lieb!


Lieber Pastor W.,

leider sind Therapieplätze in Deutschland recht rar gesät und zeitnah kaum zu erhalten. Deshalb habe ich meiner Freundin den Rat gegeben, sich an die kirchliche Seelsorge, und damit an Sie, zu wenden. 

Wie meine Freundin Ihnen im persönlichen Gespräch erzählt hat, war sie im siebten Monat schwanger, als sie bei einer Routineuntersuchung überraschend erfahren hat, dass ihr Kind schwer behindert sein wird. Sie musste innerhalb von sieben Tagen die Entscheidung treffen, das Kind zu gebären oder es abzutreiben. Dabei ignorierte sie ihren eigenen Wunsch, nämlich ein lebendiges, behindertes Kind zu gebären, und entschied sich stattdessen für die Abtreibung. Das Kind verstarb nach einer Spritze in ihrem Mutterleib, bevor es Stunden später, unter vielen Tränen und in Begleitung einer Hebamme still geboren wurde.

Seither geht es meiner Freundin sehr schlecht. Ich hatte von Herzen gehofft, dass ihr ein Gespräch mit Ihnen hilft, dass es ihr wenigstens etwas Erleichterung verschafft und im besten Falle auch ein wenig Orientierung zu geben vermag. Tatsächlich ist es nun aber so, dass es ihr seit dem Gespräch mit Ihnen deutlich schlechter geht. Denn anstatt ihr zuzuhören, ihr gut zuzusprechen und ihr in diesen schweren Wochen und Monaten beizustehen, haben Sie ihr mitgeteilt, dass jedes Leben leben will und ihre Entscheidung, das Kind nicht zu gebären, Mord war.

Ist Ihnen bewusst, dass Sie diese Entscheidung für ihr Kind getroffen hat? Weil sie ihm ein Leben voller unaushaltbarer Schmerzen ersparen wollte? Dass Sie diese Entscheidung auch aus dem Druck Ihres Umfeldes heraus getroffen hat? Für ihre Familie, ihren Mann und ihr gesundes Kind? Sie selbst hätte das Kind von Herzen gebären wollen und selbst die schwerste Behinderung hätte ihrer Liebe keinen Abbruch getan. Dieses Kind wurde ungeboren bereits so viel mehr geliebt als viele andere, lebende Kinder auf dieser Welt. Was für ein Gott ist ihr Gott, wenn er nicht dazu in der Lage ist anzuerkennen, wie selbstlos diese Entscheidung war? Und sagen Sie, was hätte es Sie wohl gekostet, die Entscheidung meiner Freundin mit etwas Güte, Nachsicht und Sanftmut zu betrachten? Wie christlich ist es wohl, den Glauben über alles zu stellen und dafür in Kauf zu nehmen, jemanden, der eh schon leidet, so viel zusätzlichen Schmerz aufzubürden? Es wäre so leicht für Sie gewesen, Ihr nur ein wenig Frieden zu geben. So leicht.

Wenn das Ihre Definition von Christlichkeit und Nächstenliebe ist, lieber Pastor W., dann will ich Ihrem Glauben nicht angehören. Lieber emtscheide ich mich dann dazu, eine schlechte Christin, aber dafür ein guter Mensch zu sein.
Für Sie persönlich hoffe ich, das Ihr Leben stets geradlinig verlaufen wird.
Sollte Ihnen jemals etwas geschehen, dass Sie an den Rand Ihrer Existenz treibt, das tiefe Selbstzweifel in Ihnen sät, dass Ihren Glauben ins Wanken bringt und Ihren Willen zu leben hart auf die Probe stellt, dann wünsche ich Ihnen von Herzen, dass Sie mehr Gnade und Menschlichkeit erfahren dürfen, als meine Freundin, die als Hilfesuchende zu Ihnen kam, von Ihnen.


Mit freundlichen Grüßen 
Muschelmädchen 

Kommentare

  1. Traurige Geschichte!
    Auf die Kirche zu setzen, ist aber auch ziemlich naiv...

    Einen kritischen Kommentar zum Thema habe ich gelöscht vor dem Senden.
    Hausbesuche früh um 6 mag ich nicht. Besitze nicht mal einen Bademantel...

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    1. Naiv... Ja, offenbar war es das. Ach, kritische Kommentare sind auch okay. Mir ist auch selbst klar, dass man das Thema kontrovers diskutieren kann. Die Diskussion, bevor so eine Entscheidung getroffen wird, hätte ich auch durchaus verstanden. Aber Monate danach mit dem Finger auf jemanden zu zeigen und ihn als Mörder zu bezeichnen, dessen Zustand offen gesagt sehr besorgniserregend ist, empfinde ich nicht als förderlich. Und auch nicht als zugewandt, empathisch oder menschenfreundlich.

      Ich habe zwei Bademäntel und trage keinen. Möchtest du einen von mir? :-)

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    2. Meine Kritik galt der Institution Kirche und damit verbunden der Politik...
      Deswegen der Bezug auf Bademantel und Hausbesuch ;-)
      Da hatte ich mich wohl etwas missverständlich ausgedrückt.

      Beim Thema an sich bin ich ganz Deiner Meinung!

      Schönen 3. Advent wünsche ich.

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    3. Dankeschön, das wünsche ich dir auch! Und ich hätte dir tatsächlich einen Bademantel geschenkt. :-) (Ich hab gestern Kalamatotten aussortiert. Vermutlich kommt die Fixierung auf das Verschenken der Kleidung daher, sieh es mir bitte nach. :-))

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    4. Dafür müssten wir ja beide unsere Anonymität aufgeben!?!
      Besser nicht!

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    5. Na schön, jetzt bin ich neugierig.
      Warum nicht?
      Ich bin vertrauenswürdig.

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  2. In der Konfliktkommunikation gibt es diese Zirkel, die wir quasi "um unseren Kern herum", die Summe dessen, was wir IDENTITÄT nennen, arrondiert haben.
    Im Wesentlichen 4 Zirkel/Sphären.

    Zwischen dem 2. und 3. verläuft ein von uns mit Stacheldraht und Schussanlagen befestigter Graben, hinter ihm (auf der Innenseite) liegen unsere Regeln und Werte, unsere Glaubenssätze und Normen.

    Es ist nicht möglich, mit uns (oder anderen) über diese Sphären zu verhandeln, etwas zu wünschen, um etwas Änderung oder Überdenken zu bitten:
    Dieser Bereich ist von außen abgeriegelt, er definiert uns so sehr und ist daher so wichtig für uns, dass es uns (und anderen) nicht möglich ist, hierüber auch nur eine Fragestellung zuzulassen.

    Daher sollte ich es keinesfalls zulassen, dass ich mich in eine Situation bringe einen Rat oder Trost annehmen zu wollen/müssen von einem Menschen, dessen innere 2 Zirkel auf der Existenz eines imaginären Wesens basieren, welches ihn anweist, wie er mit einem realen Wesen umzugehen oder nicht umzugehen habe.

    TL;DR:
    Es ist unverzeihlich, dass unsere Politik mangel
    Ressourcenbereitstellung bereit ist, solchen Institutionen
    die "Beratung" von Hilfebedürftigen zuzugestehen.

    Ich ändere das in der ersten Woche meiner kaiserlichen Regentschaft.

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    1. Na dann los!
      Wie lange willst du denn noch warten? :-) Du wirst hier gebraucht.

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