Von verhexten Beziehungen

In den letzten Minuten hab ich viele Sätze getippt, nur um sie anschließend wieder zu löschen. Ich kann fühlen, was ich schreiben will, aber es fällt mir schwer, es auf den Punkt zu formulieren: Es beschäftigt mich seit ein paar Tagen mal wieder intensiv, dass ich in den allermeisten meiner Beziehungen das Gefühl habe, nicht gesehen zu werden und nicht gut genug zu sein.  Da ist zum Beispiel die enge Freundin, die mir Tag und Nacht WhatsApp-Nachrichten schreibt, mich quasi in Echtzeit an ihrem Seelenleben teilhaben lässt, aber nicht einmal auf die Idee kommt, mich zu fragen, was los ist, obwohl ich klar formuliere, dass es mir nicht gut geht. Da ist der Mann, der in all den Jahren nicht auf die Idee gekommen ist, mich heiraten zu wollen. Vermutlich weil ich nicht gut genug bin. Was einerseits okay ist, weil ich nicht heiraten will, aber andererseits in stummer Beharrlichkeit das Gefühl in mir erzeugt hat, dafür wohl nicht gut genug zu sein. Ein Gefühl, das schmerzt. Da ist die Freundin

Von der Unschuld



„'Eines Tages', sagte sie, 'fange ich Träume ein wie Schmetterlinge.'
'Und dann?', fragte er.
'Lege ich sie zwischen die Seiten dicker Bücher und presse sie zu Worten.'
'Was, wenn jemand immer nur von dir träumt?'
'Dann sind wir beide vielleicht schon Worte in einem Buch. Zwei Namen zwischen all den anderen.'“

(Kai Meyer: Arkadien erwacht)

„Wir laufen heute zu einer Burg.“, sage ich lächelnd zu dem kleinen, blonden Jungen, der vertrauensvoll zu mir hochschaut. „Eine echte Burg?“, fragt er neugierig. Ich muss ein bisschen lachen. „Eine echte Burg!“, bestätige ich nickend, „Keine Aus Pappe!“. Er tritt aufgeregt von einem Bein auf das andere. „Haben da mal Ritter gewohnt?“, fragt er aufgeregt und schiebt seine Hand in meine. „Ritter und Könige und Prinzessinnen und ihr Gefolge. Die Burg ist schon viele Jahrhunderte alt.“, antworte ich lächelnd. Nachdenklich sieht er sich um. Wir stehen auf einem Berg, vor uns eröffnet sich bis zum Horizont ein einziges flaches Land. Bunte Felder reihen sich aneinander, hier und da werden sie von kleinen Dörfern durchbrochen. Von hier oben sehen die Häuser aus, als wären sie Spielzeug, so zierlich, als würden sie durch eine einzige Berührung zu Staub zerfallen. Für einen Moment schrumpfen unsere Sorgen und Ängste zu Nichtigkeiten und wir beobachten die Schatten der Wolken, die über die Welt wandern.

„Wo ist denn die Burg?“, fragt er mich. Ich drücke die kleine Hand, die in meiner liegt, liebevoll. Dann sage ich leise: „Dreh dich mal um und sieh nach oben.“. Den Blick nicht ein einziges Mal von ihm abwendend, beobachte ich gespannt seine Reaktion. Ich habe darauf geachtet, ihn auf dem Weg hierher abzulenken und so dafür zu sorgen, dass er die Burg noch nicht entdeckt. Ganz groß werden seine Augen, als er das riesige, alte Gemäuer, weit über uns, erspäht. Ich kann es verstehen. Selbst jetzt, als fast erwachsene Frau, habe ich noch nie in meinem Leben etwas Vergleichbares gesehen. Die Burg ist aus dem oberen Drittel des Steilhanges heraus geschlagen worden, ist eins mit Felsen, Erde, Bäumen und Land, und erstreckt sich bis zur höchsten Spitze des Berges. Der kleine Junge neben mir wird vor großem Staunen ganz still. 

Der Weg, der hinauf zu der Burg führt, liegt im gleißenden Sonnenlicht. Warm legt sich die Sonne auf unsere Haut, während kleine Brisen gleichermaßen für Abkühlung sorgen. Es ist noch früh am Tage, die Luft ist frisch und der Tag unschuldig und neu. All das ist fühlbar, während wir lachen, und der kleine Junge immer wieder vorläuft und mich, in seiner Aufregung, dazu antreibt, schneller zu laufen und mich zu beeilen. Später, als er allmählich müde wird, wird er ruhiger und läuft neben mir. Dabei beginne ich, ihm das Märchen von Schneewittchen zu erzählen. Weil er aber ein Junge ist, wird dabei die schöne Prinzessin zum tollpatschig-wirren Zwerg, die Zwerge werden zu Rittern und die böse Hexe zum furchteinflößenden Zauberer. Ich erfinde gutmütige Waldgeister und zarte Feen, sprechende Steine, mutige Prinzen, weise Könige und liebevolle Elfen, die Kriege führen, Bündnisse schließen, für Frieden sorgen und über all dem lieben.

Die letzten Meter bis zur Burg müssen wir über Felsen klettern. Das ist ziemlich anstrengend, so dass wir ein bisschen außer Atem sind, als wir das Burgtor schließlich erreichen. Ich fahre mit den Fingerspitzen langsam über die uralten Steine des Burgtores und versuche, jedes Bild, das sich mir bietet, einzufrieren, um es in meiner Erinnerung bewahren, drehen, wenden und fühlen zu können. Während ich, ob des Alters und der Geschichte dieses Bauwerkes, spüre, wie eine Gänsehaut über meinen Körper wandert, rennt der kleine Junge ungeduldig in das Innere der Burg hinein. Plötzlich ist er gar nicht mehr erschöpft, sondern neugierig und aufgeregt. Seine Augen blitzen vor Freude. Vollkommen selbstständig läuft er vor, will alles entdecken und erforschen, versucht Zeichnungen an den Wänden des Burginneren zu lesen und dreht sogar ab und an Steine um, wenn es ihm möglich ist. Dieser Ort hier ist so verzaubert, dass es mich nicht wundern würde, wenn er tatsächlich einen Schatz finden würde. 

Zusammen legen wir die letzten paar Meter bis zur höchsten Spitze des Berges zurück. Wir sind nicht nur dem Himmel näher als je zuvor, sondern tauchen jetzt nahezu in die weißen Wolken ein. Inmitten eines gelben Blumenmeeres, das uns umgibt, bleiben wir stehen und schauen von oben auf den Weg hinab, den wir hinauf gekommen sind. Unsere Blicke brechen erst am Horizont, dort, wo nichts mehr ist, außer dem Mehr, das sich mit bloßem Auge nicht mehr erfassen lassen will. Obwohl sich die Welt direkt vor uns erstreckt, sich wie ein Teppich vor uns ausbreitet, wir Land sehen, Meer und noch viel mehr Himmel und Ferne, wirkt sie gleichermaßen klein und überschaubar. Ich fühle mich ein wenig, als hätte man uns aus dem Leben herausgelöst, als wären wir umgeklebte Abziehbilder. Klein und unbedeutend, aber dennoch unbeschwert und frei. „Ich würde so gerne fliegen können.“, sagt der kleine Junge neben mir und ich muss an den Tretstuhl mit den feingliedrigen Flügeln denken, den ich, als ich seinem Alter war, immer erfinden wollte und der ein wenig einem schwebendem Fahrrad ähnelte.

Nach einer langen Rast auf dem höchsten Punkt des Berges, bei der wir Weißbrot, Salami und eine ganze Tafel Schokolade verspeisen, machen wir uns langsam auf den Rückweg. Meine kleine Begleitung wirkt jetzt merklich erschöpft. Als der Junge nicht mehr so richtig laufen mag, setze ich ihn mir auf den Rücken und trage ihn Huckepack. Mit leiser Stimme singe ich stockelige Lieder, soweit mein Atem dazu reicht. „Das Wandern ist des Müllers Lust“, „Hoch auf dem gelben Wagen“, „Kommt ein Vogel geflogen“ und „Ein Männlein steht im Walde“. Anfangs singt er mit, feuert mich an, zu laufen und ihn hin und her zu schaukeln, doch irgendwann schläft er ein. Sein Gesicht schmiegt sich sanft in meinen Nacken und sein warmer Körper wird ganz schwer. Der kleine Kinderkörper, den ich trage, fühlt sich mit einem Male unglaublich zerbrechlich an. Ganz tief in mir spüre ich so viel Zuneigung für diesen kleinen Menschen, dass ich schlucken muss. Dafür, dass ihm niemals Unrecht und Leid begegnen würde, würde ich alles tun. Ohne zu zögern würde ich die Welt, mit bloßen Händen, aus den Angeln heben und alles Glück in Bewegung setzen. Wenn es mir nur möglich wäre.

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