Vom letzten Eindruck
Einer der letzten Eindrücke aus 2021:
Eine uralte Dame sitzt, mitten im Discounter, ganz gebückt in ihrem Rollstuhl. Mit Tippelschritten bewegt sie sich unendlich langsam vorwärts. Dabei flüstert sie mit dünner Stimme. Hilfe. Hilfe. Hilfe. Die Menschen hasten an ihr vorüber.
Ich hab es eigentlich auch eilig. Will nach Hause. Und zögere, über meinen eigenen Schatten zu springen. Da ist diese Berührungsangst. Eine Hemmschwelle. Und vielleicht auch die egoistische Befürchtung, vereinnahmt zu werden? Ich kann es nicht gut genug in Worte kleiden.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass es nicht jedem Tag so ist. Das ich nicht jeden Tag dazu in der Lage bin, zu helfen. Aber heute ist ein guter Tag. Heute kann ich es. Ich hocke mich vor sie - Ist das falsch? - und frage, ob sie Hilfe braucht. Sie spricht so leise. Die Stimme zart und so erbrechlich. Es dauert ein paar Sekunden, ehe ich verstehe. Auch ehe ich die Musik, die viel zu laut durch den Supermarkt dröhnt, ausblenden kann.
Die alte Dame braucht Milchreis. Aber da sie nicht aus ihrem Rollstuhl aufstehen kann, kann sie ihn weder finden noch sich nehmen. Für einen Moment frage ich mich unwillkürlich, wer seine Mutter, Oma oder Uroma, die sich in so schlechter gesundheitlicher Verfassung befindet, alleine einkaufen gehen lässt. Oder ist sie alleine? Hat sie niemanden mehr? Sie muss für einen Einkauf ewig brauchen. Und den Heimweg mag ich mir nicht vorstellen.
Wir suchen den Milchreis gemeinsam. Im Anschluss packe ich ihr die Einkäufe, die sie in ihrem Schoß gesammelt hat, in die Tasche hinter ihrem Gefährt. Dann gehen wir zur Kasse. Ich wünsche ihr alles Gute. Und sie mir. Und unsere Begegnung berührt mich. Nachhaltig. Sie wird mich noch mehrere Tage begleiten. Vielleicht länger.
Wir sollten unsere Alten nicht so alleine lassen. Das ist nicht gut. Und das tut mir leid. Ich denke an meine Oma. Ich hätte mich mehr um sie kümmern sollen. Bevor sie versucht hat, der Isolation und der Einsamkeit im Altersheim zu entfliehen. Mit einem Sprung aus Fenster.
Seitdem sie verstorben ist, glaube ich manchmal, dass ich heute öfter an sie denke, als zu ihren Lebzeiten. Manche Lektionen, die einen das Leben lehrt, sind einfach bitter. Manchmal glaube ich, dass wir noch nie im Leben so alleine waren, wie wir es heute sind.
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Das ist nicht schön.
AntwortenLöschenVermutlich hast Du Recht mit Deinem letzten Satz. Für viele trifft das sicher zu.