Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von der anderen Realität

Es gibt nur einen Grund, warum ich es schaffe, das Büro zu betreten. Denn eigentlich will ich nicht. Oder besser: Ich kann nicht. Das denke ich zumindest, als ich auf dem Parkplatz vorm Büro stehe und versuche, mich dazu zu überreden, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Obwohl ich mich lieber umdrehen und im nicht vorhandenen Wandschrank verstecken will. Mir ist klar, dass meine Nerven äußerst dünn sind. Also rede ich mir selbst gedanklich gut zu. Versuche, mich zu stabilisieren. Was irgendwie nicht zu funktionieren scheint. So gar nicht. Ich ringe nur noch mehr um Fassung.

Irgendwann parkt mein Chef neben mir ein.
Ich drehe mich weg, atme tief durch und wische mir mit den Fingerspitzen die Tränen von den Wangen. Alles ist gut. Denke ich. Das Leben geht weiter.
Aber es ist die eine Sache, Zuhause zu sitzen und einen Verlust betrauern zu sollen.
Eine ganz andere Sache ist es, mit einem Male zu fühlen, dass der Verlust im Alltag ankommt.
Das ist eine ganz andere Art der Realität.
Ein neues Begreifen.
Das hundert neue Gefühle auslöst.

Als mein Chef aus dem Auto aussteigt und auf mich zutritt, sagt er gar nichts.
Stattdessen zieht er mich in seine Arme und hält mich fest.
Richtig fest.
Genau richtig.
Es dauert keine Sekunde, bis meine Dämme ins Wanken geraten.
Mit aller Kraft, die ich habe, beiße ich mir auf die Unterlippe.
Beantworte den Schmerz mit Gegen-Schmerz.
Ich. Will. Nicht. Heulen.
Aber dann habe ich keine Chance mehr.
Denn anstatt mich loszulassen, verstärkt er seine Umarmung nur.
Ein fast schon eiserner Griff.
Um dann leise zu sagen: 
"Weine einfach. Es ist okay, zu weinen."
Und da stehe ich und er hält mich fest und ich weine so sehr, dass ich keine Luft mehr bekomme. Einmal angefangen, kann ich auch nicht mehr damit aufhören. Dabei hasse ich es, zu weinen. Die Kontrolle zu verlieren. Schmerz zu zeigen. Das ist so intim. Um so vieles intimer als alles andere. Zu intim. Und es sieht wirklich nicht schön aus.
Ich weine nie.
Niemals vor anderen Menschen.


Kommentare

  1. Liebes Muschelmädchen.
    Während ich Deinen Post lese bekomme ich selber ein bisschen PI in die Augen, denn ich fühle mit Dir.
    Aber genau da hat Dein großartiger Chef so recht ! Lass es raus ! Es ist völlig ok zu trauern und dazu gehören auch Tränen. Tränen für die Du Dich nicht schämen musst, denn sie zeigen lediglich dass Du ein MENSCH bist, und ein verletzlicher, sensibler Mensch der ein HERZ besitzt.
    Mach es nicht wie ich.! Ich habe mich lange gewehrt , nur absolut selten geweint und wenn dann nur für mich. Was dabei heraus kam weisst Du ja durch meinen Blog.
    Manchmal müssen Tränen und Trauer sein damit die Seele wieder etwas Luft zum atmen hat ! Und solange es Menschen gibt bei denen Du weinen darfst, und die Dich dabei in den Arm nehmen, mache es ! Es befreit !

    Liebe Grüße von Küstenmensch zu Küstenmensch ;)

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    1. Das mit dem wirklichen Trauern ist etwas, was ich üben muss. Ich weiß gar nicht, wie man das macht. Es war mir immer wichtig, stark zu sein.
      Sicher hast du recht, wenn du schreibst, dass es nicht gesund ist, alles mit sich selbst auszumachen...

      Ich denke viel an dich, liebe Deichkind.
      Hoffentlich geht es dir gut...

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  2. Antworten
    1. Ja. Wirklich. Ich habe immer noch nicht alle gelesen... (Würde ich aber nie zugeben.)

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  3. Na bei der Zahl hätte ich die Nase restlos voll.

    Vermutlich sind rund 900 davon sogenannte Dreierpacks.
    1. Frage nach irgendwas. 2. Hee, warum antwortest Du mir nicht. 3. Sorry, hab grad gehört Du bist nicht da.

    Deinen Chef könnt ich grad knutschen.

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    1. Mein Chef ist toll. Das stimmt.

      Was die Mails angeht, hast du vollkommen recht.
      Da ist so viel Mist dabei. Unfassbar.

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  4. Was für ein wunderbarer Chef!
    Und Dir alles Liebe!

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  5. Ich schließe mich mal Deichkindsreallife an:
    "Manchmal müssen Tränen und Trauer sein damit die Seele wieder etwas Luft zum atmen hat !"
    Lass Tränen und Trauer zu. Verdrängen hilft auf lange Sicht absolut nicht.

    Die Reaktion vom Chef: Großartig!
    Gerade im beruflichen Umfeld ist ja oft dieses "Hab Dich nicht so!" anzutreffen.
    Umso besser, dass es hier anders ist.

    Grob geschätzt: Wieviele Mails im Posteingang waren sinnvoll / wichtig?

    Alles Gute Heiko

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    1. Wie macht man das denn? Trauern? Wie fängt man das an?

      Ich kann dir deine Frage noch nicht beantworten. Nie würde ich das laut sagen, aber ich habe tatsächlich noch nicht alle E-Mails gelesen. Wenn ich schätzen soll, würde ich sagen, dass 5% vielleicht wichtig sind. Wenn überhaupt.

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    2. Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht! Jeder trauert anders. Manche weinen tagelang. Andere gar nicht. Manche betrinken sich oder fügen sich Schmerzen zu. Andere versuchen, sich abzulenken (was dann aber schnell zum Verdrängen wird).
      Es geht immer darum, diesen Druck im Inneren abzubauen, denke ich.
      Und wenn es so ist, wie mit Deinem Chef, dann lass die Tränen eben zu, auch wenn Du das "normalerweise" nie tun würdest. Aber es ist eben nicht "normal", was war. Also kannst Du auch anders reagieren, als sonst.

      5%? Ups. Doch so "viele". ;-)

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    3. Sich selbst Schmerzen zuzufügen wäre das Mittel meiner Wahl. Mittlerweile weiß ich aber, dass das nicht wirklich gesund ist und versuche, Schmerz anders zu kompensieren. Das gelingt mir meistens. Und dafür bin ich sehr dankbar.
      Manchmal denke ich, dass ich einfach eine ziemlich "stumpfe Nuss" bin. Weil... ich bin einfach pragmatisch. Es fällt mir schwer, mich dauerhaft selbst zu bemitleiden. Irgendwann habe ich das Gefühl, dass ich weitermachen muss, mich nicht hängenlassen kann Weil ich mir sonst selbst nicht mehr in die Augen sehen kann.

      Tränen zulassen. Hm. Ja. Das muss ich lernen. Aber das fällt mir sehr schwer.

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  6. Ein solcher Chef ist gold wert, hast du gut erwischt. ;-)
    Ja das mit der Trauer ist so ein Ding. ... Lass dir Zeit, alles kommt von allein. <3

    Lg Nicky

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    1. Ich war und bin traurig. Immer wieder. Aber mittlerweile bin ich wieder einigermaßen alltagsfähig. Ich kann rausgehen und mit Menschen reden, ohne loszuheulen. Das ist super.
      Nur verunsichert es mich, wenn ich so oft höre, ich soll mir die Zeit zum Trauern nehmen. Vermutlich weil ich mir nicht ganz sicher bin, wann aus "Ich kehre in den Alltag zurück" "Ich verdränge meine Trauer" wird.
      Vielleicht hast du recht und die Trauer kommt und geht von allein.
      Ich glaube, den Gedanken mag ich sehr.

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  7. Ich glaub, das die Trauer kommt und geht, das stimmt. So wellenartig.
    Sie verändert sich auch irgendwie. Überwog zuerst noch Wut und Verzweiflung, ist das doch mit der Zeit bei mir eher einem Bedauern gewichen.
    Lass es zu, wenn die Trauer kommt, ohne in Aktionismus zu verfallen. Ich denk, das ist dann schon ein gewisser Schutz vor Verdrängung. Und fühl Dich nicht schuldig, wenn du was zu Lachen hast, oder wenn Du mal ne Zeit nicht dran denkst.
    Und weil eben die Menschen verschieden sind, dauert das eben auch unterschiedlich ....

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    1. Das glaube ich auch.
      Momentan bin ich ganz erleichtert, dass es Phasen gibt, in denen ich einfach nur wütend bin. Wut liegt mir mehr als Trauer. Die kann ich raustanzen oder -sporteln. Demnächst. Wenn ich mich wieder bewegen kann und darf, wie ich will.

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