Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von der verlorenen Nacht

"Can anybody see me?
Can anybody help?"

(Sia - I´m in here) 

Es ist mitten in der Nacht, als ich aufwache und nicht mehr einschlafen kann. Ich versuche, das Gedankenkarussell loszuwerden, aber habe keine Chance. Zu sehr tobt sich der vergangene Abend durch meinen Kopf. Zu laut, zu intensiv, zu verzweifelt.

Es ist - für meine Verhältnisse - schon relativ spät, als gestern Abend das Rufbereitschaftstelefon klingelt. Am Apparat ist eine Mitarbeiterin von mir. Sie weint heftig und vor lauter Schluchzen kann ich kaum verstehen, was sie mir erzählen will. Zumal wir uns auf englisch unterhalten. In der Regel verstehe ich englisch ziemlich gut. Besser als ich letztendlich spreche. Aber dieses Mal fällt mir das Verstehen schwer. Weil die Mitarbeiterin immer wieder von Weinkrämpfen geschüttelt wird. Alles, was ich wieder und wieder aus ihrer Erzählung rausfiltern kann, ist das Wort "Polizei". Und das sie morgen nicht arbeiten gehen kann. Ich habe keine Ahnung, was passiert ist. Aber natürlich stelle ich sie für die Arbeit am kommenden Tag frei. Denn eines ist klar: Was passiert ist, muss schlimm sein. Daran habe ich keinen Zweifel.

Etwa eine Stunde später ruft mich ein Werksleiter an. Er erzählt mir, dass soeben ein Arbeitsunfall passiert ist und dass der Notarzt eine Mitarbeiterin von mir abgeholt hat. Ich bin verwirrt. In der Nachtschicht habe ich keine Frauen eingesetzt. Als ich den Namen von der Mitarbeiterin, die den Arbeitsunfall hatte, haben will, um gegebenenfalls Angehörige zu informieren und im Krankenhaus anzurufen, kann er mir nicht weiterhelfen. Er selbst ist nicht vor Ort. Einer seiner Schichtleiter hat ihn über den Unfall informiert. Er gibt mir die Telefonnummer der Schichtleitung.
Als ich den Schichtleiter schließlich ans Telefon bekomme, ist er emotional vollkommen aufgewühlt. Auch hier dauert es eine Zeitlang, bis es mir gelingt, zu rekonstruieren, was passiert ist. Der Schichtleiter ist nicht nur verwirrt, er scheint vollkommen konfus zu sein. Fassungslos. Schließlich aber fügt sich ein Puzzleteil dem anderen:
Die Mitarbeiterin, die mich vorhin angerufen hat, und die ich kaum verstehen konnte, weil sie so sehr geweint hat, ist von ihrem Mann verprügelt und anschließend vor die Tür gesetzt worden. Weil sie hier in Deutschland niemanden außer mir, ihren Arbeitgeber, hat, vollkommen alleine ist, ohne Familie oder Freunde in der Nähe, macht sie sich auf den Weg zur Arbeit. Um dort um Hilfe zu bitten. Kaum ist sie auf Arbeit angekommen, bricht sie direkt vor den Augen des Schichtleiters zusammen und verliert das Bewusstsein. Er verständigt den Notarzt, der sie vor Ort stabilisiert, aber für weitere Untersuchungen mit ins Krankenhaus nimmt.

Ich atme tief durch. Zunächst einmal versuche ich, den Schichtleiter zu beruhigen. Im Gegensatz zu mir kommt er normalerweise lediglich auf beruflicher Ebene mit meinen Mitarbeitern in Berührung. Ihre Probleme, Sorgen und Nöte bleiben ihm für gewöhnlich verborgen. Mir nicht. Aber ich kann seine Fassungslosigkeit verstehen. Wieder und wieder sagt er: "Aber Frau Muschelmädchen, das kann doch nicht sein! Es ist schlimm genug, dass der Mann sie verprügelt, aber wie kann er es denn fertigbringen, sie danach auch noch vor die Tür zu setzen? In einem Land, in dem sie niemanden kennt, in dem sie ganz alleine ist? Wie kann er das denn nur tun?!" Und er entschuldigt sich. Einmal, zweimal, achtmal. "Es tut mir leid, dass ich sie damit so zutexte. Aber ich bin so... fassungslos. Über so viel Gewalt. Und Unmenschlichkeit."
Innerlich nicke ich. Natürlich erzählen wir - die wir diesen Job ausüben - unsere Geschichten. Um sie verarbeiten zu können, erzählen wir sie sogar jedem, der sie nicht hören will. Aber es ist die eine Sache, so eine Geschichte nur zu hören. Wenn man sie hört, kann man sie einfach abnicken. Beiseite schieben oder als Übertreibung abtun. Eine ganz andere Sache ist es, eine dieser Geschichten plötzlich als Randfigur mitzuerleben. Blut und Tränen zu sehen. Der Schreck, der dem Schichtleiter in den Knochen sitzt, kommt mir vage bekannt vor. Auch ich habe irgendwann einmal so empfunden. Damals, als das Gift noch frischer war.
Ich verspreche dem Schichtleiter, mich um die Mitarbeiterin zu kümmern.
Als würde mir jemals etwas anderes einfallen.

Es folgen diverse Telefonate mit der Polizei und mit dem Krankenhaus.
Und mit einer Kollegin meiner Mitarbeiterin, die die Mitarbeiterin zwar nicht kennt, sich aber spontan, ohne zu wissen, was genau vorgefallen ist, dazu bereit erklärt, sie für ein paar Tage bei sich Zuhause aufzunehmen, wenn sie aus dem Krankenhaus entlassen wird. Dafür bin ich sehr, sehr dankbar. So viel Hilfsbereitschaft berührt mich sehr.
Und schließlich meldet sich meine Mitarbeiterin nochmal bei mir. Noch immer ist sie im Krankenhaus. Man will sie noch ein paar Untersuchungen unterziehen und ihr einen Psychotherapeuten zur Seite stellen. Trotzdem bin ich erleichtert zu hören, dass sich ihr Zustand stabilisiert hat. Auch wen sie fürchterlich traurig ist.
"Ich bin hier ganz allein.", sagt sie, "Du, Frau Muschelmädchen und deine Firma, ihr seid die ganze Familie, die ich hier in Deutschland habe. Es tut mir leid, dass ich dir so viele Probleme mache. Es tut mir so sehr leid."
Ich versuche sie zu trösten. Sage ihr, dass wir Lösungen finden werden. Dass alles gut werden wird. Aber ich spüre, dass sie mir nicht glaubt. Ich kann ihre Verzweiflung förmlich körperlich fühlen. Vor allem aber sehe ich ihre traurigen Augen vor mir. Ich kenne keine Frau, die trauriger gucken kann als sie. Und vermutlich keine, die hübscher ist. Mit ihren 21 Jahren.

Nachts, als ich hellwach im Bett liege und meine Gedanken Kreise drehen, frage ich mich, was ich gestern Abend hätte besser machen können. Ich frage mich, ob ich gleich ins Krankenhaus hätte fahren sollen. Ob ich nicht passendere Worte zum Trost hätte finden sollen. Ob es vielleicht zu indiskret war, ihr zu sagen, dass sie einen Mann verdient, der sie gut behandelt. Ich zweifle. An mir und daran, gestern wirklich alles richtig gemacht zu haben.
Um 4 Uhr morgens gebe ich die Nacht als verloren.
Stattdessen stehe ich auf, koche mir einen Kaffee und fange an, mir einen Plan zu machen. Jobcenter, Frauenhaus, Wohnungsbaugenossenschaften. Adressen und Telefonnummern. Ich muss etwas tun. Irgendwie muss ich helfen. Auch wenn nichts davon genug sein wird.



Kommentare

  1. Du bist unglaublich. Einfach unglaublich. Es gibt zu wenige von Dir.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Ach was...
      Wisst ihr, was wirklich unglaublich ist?
      Sie ist zu ihm zurückgegangen.
      Nur einen Tag später.
      Bin mir nicht sicher, ob ich hysterisch lachen oder weinen soll.

      Löschen
  2. Du hast ein großes Herz, Muschelmädchen! Dafür (auch dafür) mag ich Dich. Sehr.

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Dankeschön.
      Aber ich hab auch viele Fehler. Das will nur pro forma einmal gesagt sein...

      Löschen

Kommentar veröffentlichen

Willkommen im Zauberreich. Da dieser Blog ziemlich viel persönlichen Krimskrams enthält, lassen Sie uns einander doch duzen:

Schreib mir gerne einen Kommentar, bringe mich zum nachdenken, schmunzeln oder lachen. Aber bitte vergiss nicht, dass dieser Blog ein Spiegel meines Innen- und Gedankenleben ist. Ich würde mich demnach freuen, wenn du deine Worte sorgfältig wählst und behutsam mit den Dingen umgehst, die ich hier niederschreibe. Außerdem möchte ich dich darum bitten, mir deinen Namen oder wenigstens ein Kürzel unter dem Kommentar zu hinterlassen, damit ich weiß, mit wem ich es zu tun habe. Dankeschön!

Bitte beachte zudem, dass die von dir eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie z. B. deine IP-Adresse) an Google-Server übermittelt werden. Mehr Infos dazu findest du in meiner Datenschutzerklärung (https://zauberreich.blogspot.de/p/datenschutz.html) und in der Datenschutzerklärung von Google.

Beliebte Posts aus diesem Blog

Vom Unglücklichsein

Vom Kaffee und vom Leben

Vom Schmerzgedächtnis