"Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf — Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille —
und hört im Herzen auf zu sein."
(Rainer Maria Rilke: Der Panther)
Wir sitzen in der Bibliothek. Der
Tag leuchtet nur kraftlos durch die trüben Fenster. Das restliche Licht,
welches sich in den Raum verirrt, verliert sich in den Bücherregalen. Er sitzt
in seinem Ohrensessel. Vor ihm ein kleiner Beistelltisch. Eine Kerze will das
Tageslicht ergänzen. Zwei Tassen wärmen uns.
„Dass ich sie liebte, wusste ich,
als ich sie das erste Mal sah. Das war auf einem großen Fest. 1961. Sie war
nicht einfach das schönste Mädchen des Abends. Sie war so viel mehr.
Unbeschwert. Temperamentvoll. Bunt. Ein Wirbelwind. Man sah es an der Art, wie
sie tanzte. So voller Kraft. Es war, als würde sie von purer Lebensfreude
bestimmt. Ihre roten, lockigen Haare hatten sich aus dem Knoten, den sie im
Nacken trug, gelöst und standen widerspenstig in alle Richtungen ab. Das gelbe
Kleid umspielte ihre Beine im Takt ihrer Tanzschritte. Sie fiel irgendwie aus
der Rolle. Fiel auf. Aber das war es nicht, was mich so faszinierte. Was mich
wirklich faszinierte, waren ihre Sommersprossen. Millionen von Sommersprossen
zierten ihre Haut. Egal, wo man hinsah. Beine, Arme, Gesicht. Alles voller
Sommersprossen.“
Er lächelt still in sich hinein.
„Sommersprossen?“ frage ich. Eine
Nuance von Ungläubigkeit schwingt in meiner Stimme mit.
„Ja, Sommersprossen.“. Er blickt
auf und schaut mir geradewegs in die Augen: „Hast du keine?“. Rhetorische
Frage. Es vergehen einige Sekunden, bis er nachsetzt: „Wenn du keine hast, dann
schaff dir welche an. Alle schönen Frauen haben Sommersprossen.“.
Ich schweige.
Als er weiterspricht, wirkt er
nachdenklich. Sucht nach Worten.
„Das Leben hat sie gebrochen.
Ihre… Ihre Männer haben sie gebrochen.“. Er schluckt. „Sie ist kein guter
Mensch. Ich weiß das. Aber ich liebe sie. Heute wie vor 50 Jahren. Es ist kein
Tag vergangen, an dem ich sie nicht geliebt habe. Selbst wenn ich sie verlassen
wollte, ich könnte es nicht. Es reicht mir, sie zu begleiten. Für sie da zu
sein. Ihr die Hand zu reichen, wenn sie sie benötigt. Das ist es, was mich
glücklich macht.“
Er ist ihr nie so nahe gekommen,
wie er es wollte. Trotzdem blieb er. Als stiller Beobachter, ungehörter
Ratgeber und loyaler Freund. Ohne zu hinterfragen, Ansprüche zu stellen oder zu
bereuen. Er hat sie gefördert, gestärkt und aufgefangen. War immer ehrlich,
zuverlässig und treu. Er hat ihr Leben auf Kosten seines eigenen mitgelebt.
Baute ihr ein Haus, ertrug ihre dominanten Männer und umsorgte ihre Kinder,
wenn sie es selbst nicht konnte. Nie hat er den Glauben an sie verloren. Und er würde sie niemals aufgeben. Er ist derjenige, der die Familie
zusammenhält. Er ist der Kitt. Unser Herzstück.
„Sie ist der Mensch, der mich glücklich macht."
Ich bin mir nicht sicher, ob sie ihn jemals geliebt hat.
(https://stocksnap.io/photo/OO9TKTW8FJ, 30.11.2017)
(Ich vermisse dich, Peter Pan.)
Sich so in einem anderen Menschen verlieren zu können,
AntwortenLöschenist entweder eine Begnadigung oder eine Verurteilung des Schicksals.
Ich bin nicht sicher, was von Beidem Einem lieber sein sollte.
Mmh. Schwer zu sagen. Aber ich glaube, sagen zu können, das er zufrieden war. Wenngleich bescheiden.
LöschenDas hat was von Selbstaufgabe ... Aber wenn es ihn glücklich macht ...
AntwortenLöschenTrotzalledem weiss ich nicht, ob sie ihn verdient hat. Sie kann es wahrscheinlich nicht würdigen, weil sie es nicht erkennt. So schade.
Ich kann nicht oft genug sagen, wie sehr ich Deine Schreibe liebe, Muschelmädchen!
Vielleicht ist es aber auch nicht unsere Entscheidung, zu bewerten, wer was verdient hat und wer nicht. Ich habe keine Ahnung. Aber das sie es (vermutlich) nicht zu würdigen weiß, finde ich auch sehr schade. Mehr als schade.
LöschenWeißt du, ich danke dir für den letzten Satz. Er entschädigt mich ein wenig für die kritischen Kommentare mancher Leser, mit denen ich ab und an kämpfe und die zu verknusen mir oft nicht ganz leicht fällt.
...dann sollten wir alle, die wir deine Schreibe lieben, dir das viel, viel öfter mal mitteilen, Muschelmädchen.
LöschenAnderen zu sagen, was man an ihnen mag, tun wir (fast?) alle viel zu selten. Dabei ist das so wichtig. Für uns alle. Rain hat mich neulich sehr drauf gestossen. Und das war gut so. Ich drohte, das aus den Augen zu verlieren.
Also: ich mag deine Schreibe ebenfalls sehr. Sehr! Deshalb schnei ich hier mindestens jeden Morgen rein.
Gwen
Das ist lieb, Gwen, vielen Dank. Ich freue mich immer wieder, wenn sich “neue“ Leser hier zu Wort melden.
LöschenStimmt, Rain hat recht. Wie so oft...