Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Vom Abschied

Solange ich denken kann, selbst als ich noch ein Kind war, hast du mich die Liebe zur Sprache und zum Ausdruck gelehrt. Schon lange bevor ich eingeschult wurde, hast du mir versichert, dass ich Bücher lieben werde. Mit einer Engelsgeduld hast du das Schreiben mit mir geübt. Von dir habe ich mein erstes Balladenbuch geschenkt bekommen. Mit der schönsten Widmung, die ich jemals erhalten habe. Nur für dich habe ich alle Strophen von Friedrich Schillers "Die Bürgschaft" auswendig gelernt. Ich wollte dich stolz machen. Und manchmal, wenn Oma und ich dir zu viel mit einander getuschelt haben, hast du dich von hinten an uns angeschlichen. Und leise lächelnd gebeten: "Ich sei, gewährt mir die Bitte, / In eurem Bunde der Dritte." Mit dir an meiner Seite habe ich mit 8 Jahren mein erstes eigenes Gedicht geschrieben. Du warst es auch, der mir mein Lieblingsbuch, "Der alte Mann und das Meer" von Hemingway, mitgebracht hat. Und der meinen Teil der Neufassung von Thomas Morus´ "Utopia" korrekturgelesen, mich kritisiert und mit mir diskutiert hat.
Ich glaube, diesen Blog gibt es nur wegen dir.

Heute Morgen bist du eingeschlafen.


*.*

Erinnerung vom 03.05.2011



„Das meiste, fast alles, habe ich wieder vergessen, wenn die Sonne aufgeht. Doch irgendwo in meinem Inneren wird es wohl bewahrt bleiben.“

(Heinrich Böll: Briefe aus dem Krieg)

~.~

„Was hältst du eigentlich von Japan, Vati?“ fragt er.
Vati blickt auf. Er ist verwirrt. Weiß, dass er jetzt eine Antwort geben muss. Dass sie erwartet wird. Schnell muss er den Verdacht ausräumen, den sein Sohn hegt. Spürt den Druck, der sich mit seinem Schweigen stetig zu erhöhen scheint. Spürt alle Augen auf sich. Aber seine Gedanken schweifen ab. Zur Universitätsklinik, die er jetzt einmal in der Woche besuchen muss. Fragen stellen sie ihm. So viele Fragen. Manchmal vergisst er, warum er da ist. Dann irritieren ihn die kalten, sterilen Räumlichkeiten. Und er greift nach der Hand seiner Frau.
„Japan?“ fragt Vati.
Er weiß, dass in seiner Stimme eine Spur von Unsicherheit mitschwingt. Er ärgert sich darüber. Überhaupt ärgert er sich über sich selbst. Durchforstet seine Gedanken. Japan, Japan, Japan. Er müsste das wissen. Glaubt er. Japan ist ein Land. Er schaut auf den Tisch. Ziemlich weit weg ist Japan, denkt er, während er seine Hände betrachtet. Ob er sich wohl wegdenken kann? Geht das, sich unsichtbar zu denken? Vermutlich nicht. Trotzdem fühlt er sich, als würde er langsam unsichtbar werden.
Er denkt an die Straßenbahnfahrt zur Universitätsklinik. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass es einmal einen Zeitpunkt geben würde, in dem er nicht mehr in der Lage wäre, alleine Straßenbahn zu fahren. Er hätte sich vorstellen können, dass er körperlich nicht mehr in der Lage dazu sein würde. Aber geistig? Nein. Das nicht. Wirklich nicht. Er will sich schütteln, alles abschütteln. Spürt die Hand seiner Frau auf seiner Schulter.
„Japan, Erhardt. Das weißt du doch, das haben wir im Fernsehen gesehen.“
Aha. Es scheint sich um eine politische Frage zu handeln. Natürlich. Er ist ein sehr politisch interessierter Mensch. Er sucht in seinen Gedanken nach Verbindungen, nach Eindrücken, nach Antworten. Japan. Er findet nichts. Nicht einmal ein Gefühl. Fast muss er lächeln. Bittere Ironie, sein Schicksal. Über Jahrzehnte sehnte er sich danach, vergessen zu können. Den Krieg, in dem er gekämpft hatte. Die Verwüstung, die Verzweiflung, den Tod. All das hatte er so sehr vergessen wollen. Jetzt ist er ziemlich gut darin. Im Vergessen. Und bereut den Wunsch danach.
„Japan, Erhardt! Das Atomkraftwerk in Japan.“
Er spürt die Ungeduld seiner Frau. Fast ein wenig wütend klingt sie. Er kann das gut verstehen. Wirklich. Es ist nicht einfach für sie, mit ihm umzugehen. Jetzt, da er so viele Dinge vergisst. Er weiß das. Und gräbt ein weiteres Loch in seine Gedanken. Sucht für sie. Teilt ihre Wut. Plötzlich fällt es ihm ein. Natürlich, Japan. Es geht schnell, kommt aus dem Nichts. Einfach so, vollkommen unerwartet, taucht es wieder auf. Japan. Schlimm. Seine Unsicherheit bemüht überspielend, entgegnet er unfreundlich, fast feindselig:
„Japan, ja, ich weiß. … Fuku… Fukushima. Ich weiß das doch!“
Er schämt sich. Will diese Diskussion, dieses Gespräch nicht. Kann sich seiner Erinnerung nicht mehr sicher sein. Entzieht sich, murmelt etwas von ´Toilette´, erhebt sich. Verschwindet im Restaurant. Er stellt sich vor, dass am Tisch betretenes Schweigen herrscht. Er hätte sich auch einen schöneren Anlass gewünscht, seinen Sohn und die Enkelin mal wiederzusehen. Bittersüß.
So viele Menschen in dem Restaurant. Das Hörgerät funktioniert nicht gut. Ab und zu hört er Wortfetzen. Eigentlich gleicht die Kulisse aber eher einem großen, grauen Rauschen. Wo ist er hier eigentlich? Er spürt, dass die Blase drückt. Keine Panik, er darf nicht in Panik ausbrechen. Schaut sich um. Menschen. Überall. Muss eine Toilette geben. Er dreht sich, wendet sich. Ruhig bleiben. Stehenbleiben. Tief einatmen. Er kann nicht alleine hier sein. Was sollte er allein in einem Restaurant? Seine Augen schweifen über die Menge. Er muss Gesichter finden. Es muss bekannte Gesichter geben.
Er wirkt desorientiert. Steht mitten im Raum des Restaurants, als wüsste er selbst nicht, wie er dort hingekommen ist. Als wüsste er selbst nicht, wer er sei. Verloren. Der einst so große, stattliche Mann wirkt in diesem kleinen Restaurant unglaublich zierlich. Hilflos.
Sein Sohn springt auf. Eilt ihm zu Hilfe. 

~.~

Später am Tag sitzt man bei einer Tasse heißen Kaffee beieinander. Vati spricht nicht über das, was mit ihm passiert. Die Krankheit, die noch keinen Namen hat. Könnte er sich wahrscheinlich eh nicht merken, denkt er. Die Gespräche widmen sich einfachen Themen. Meist spricht seine Frau. Nur einmal erhebt er leise die Stimme. Formuliert einen einzigen Satz. Zusammenhangslos. Traurig. Er spricht flüsternd:
„Man kann schon sagen, dass ich nicht mehr der Mensch bin, den ihr mal kanntet.“
Mit fast brachialer Gewalt erreichen mich seine Worte. Für einen kurzen Augenblick muss ich die Augen schließen.

Kommentare

  1. Ich hab Gänsehaut, Muschelmädchen. Und sags noch mal: Ich fühle sehr mit Dir.

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    1. Dein langer Kommentar unter dem anderen Post hat mich ein wenig sprachlos gemacht. Wie viel Zeit du dafür aufgebracht hast. Dankeschön, liebe Helma..

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  2. Mein aufrichtiges Beileid. Ich fühle mit dir.

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