Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von viel zu kurzen Momenten

Früher hätte er gelesen, aber in den letzten Jahren hat er fast vollständig sein Augenlicht verloren. Außerdem konnte er sich, im Zuge der fortschreitenden Demenz, irgendwann nicht mehr auf seine Bücher konzentrieren. Was ihm geblieben ist, ist seine Liebe zur klassischen Musik. Als wir ihn besuchen, sitzt er, eine dünne Decke über seinen Knien, in seinem Lieblingsessel und lauscht mit halb geschlossenen Augen hingebungsvoll der Sinfonia No. 9 von Johann Sebastian Bach, die im Hintergrund läuft. Um ihn nicht zu erschrecken, dreht meine Oma die Musik vorsichtig leiser, bevor sie an ihn herantritt.
"Hallo Hans.", grüßt sie ihn leise. Instinktiv wendet er sein Gesicht ihr zu. Blinzelt gegen die Schatten, die vor seinen Augen tanzen, an. Sie beugt sich zu ihm hinab, so nahe, dass sich ihre Nasenspitzen fast berühren. Damit er sie schemenhaft erkennen kann.
"Weißt du heute, wer ich bin?", fragt sie sanft und senkt die Augen, um die Angst, die in ihrem Blick liegt, zu verbergen. Doch bei dem Klang ihrer Stimme fängt mein Opa plötzlich an über das ganze Gesicht zu strahlen. Seine Hände tasten nach ihr und legen sich auf ihre Wangen. Behutsam zieht er sie näher zu sich heran und küsst sie auf ihre Lippen. Wobei er die Leidenschaft eines jungen Mannes an den Tag legt.
"Aber natürlich weiß ich, wer du bist.", antwortet er liebevoll. Seine Stimme klingt fest und sicher:
"Du bist meine geliebte Frau. Seit über 60 Jahren." Die Augen meiner Oma weiten sich überrascht, als sie versteht, dass er sich heute an sie erinnern kann. Zu ihr zurückgekehrt ist für ein paar viel zu kurze Momente.
"Und du bist mein Mann.", flüstert sie heiser, während sie sich in seinen Arm schmiegt. In ihren Augen schimmern Tränen.


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