Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von der Überwindung

Es ist die kleinste meiner Kolleginnen, die schließlich an meine Tür klopft und in den Raum tritt. "Entschuldigung", unterbricht sie das Bewerbungsgespräch, das ich gerade führe und wendet sich an mich, "Aber kann ich dich mal eben sprechen? Es ist wichtig." Die Art, wie sie mich ansieht, lässt mich keinen Moment an der Dringlichkeit ihres Anliegens zweifeln. "Natürlich.", lächle ich und entschuldige mich bei dem Bewerber. "Ich beeile mich!", versichere ich ihm und biete ihm einen weiteren Kaffee an.

"Ist alles in Ordnung?", frage ich sie, als wir den Raum verlassen haben. Sofort schießen ihr Tränen in die Augen. "Da vorne ist ein Mann mit dem wir nicht zurechtkommen. Er schreit und pöbelt. Ich bekomme ihn einfach nicht dazu zu gehen." Ich nicke. Straight. Aber die Wahrheit ist, dass es genau diese Situationen in meinem Job sind, die mich müde machen und die ich scheue. Ich bin kein Freund von Konfrontationen. Mein Gemüt ist viel zu ausgeglichen und freundlich, als das es mir leichtfallen würde, durchzugreifen und einen harten Ton anzuschlagen. Aber an Tagen wie diesen trage ich die Verantwortung. Und kann es nicht dulden, dass jemand die kleinen, zierlichen Mädels aus meinem Team zum weinen bringt. Also schiebe ich alle Scheu vor mir und trete an den Empfang.

"Was kann ich für sie tun?", frage ich freundlich.
Der Mann, der vor mir steht, ist ein Hüne. Blonde, zerwuschelte Haare, fleckiges T-Shirt, kurze Hosen. Mir fällt auf, dass er keine Schuhe trägt. Der kleine Empfangsraum riecht nach kaltem Schweiß und Schnaps. Ich verziehe keine Miene.
"Bin ich Freund von Herrn M.*", antwortet er laut, "Will ich wissen, warum du Kündigung gemacht hast."
"Hallo Freund von Herrn M.", begrüße ich ihn, "Warum kommt Herr M. denn nicht selbst, um mich das zu fragen? In seiner Kündigung stand, dass wir bei Bedarf gerne zu einem erläuternden Gespräch bereit sind."
Mein Gegenüber lacht agressiv auf und die Situation eskaliert schneller, als ich es erwartet habe.
"Willst du verarschen mich, du Votze?", schreit er unvermittelt los und spuckt vor sich auf den Boden. Und das ist der Moment, indem ich aufhöre zu denken und in den reinen Funktionsmodus schalte.
"Nein.", sage ich mit scharfer Stimme, "Ich verarsche sie nicht. Und sie werden sich entweder in einem ordentlichen Ton mit mir unterhalten oder sie werden jetzt gehen." Ich zeige auf die Tür: "Dort ist die Tür!"
"Ich nicht gehen.", stellt er fest, greift in seine Hosentasche und offenbart eine Zigarettenschachtel, sowie ein kleines Klappmesser, das er zwischen uns auf den Tresen legt, während er Anstalten macht, sich eine Kippe anzuzünden.
"Sie werden hier nicht rauchen!", weise ich ihn laut zurecht, "Das können sie draußen tun. Ich möchte, dass sie gehen! Anderenfalls rufe ich die Polizei."
"Fuck Polizei!", lacht er höhnisch, "Holst du Polizei! Machst du jetzt, ich warten!"
Ich greife nach dem Telefonhörer. Aus den Augenwinkeln registriere ich, dass die Büro-Mädels die Szene aus einem sicheren Abstand heraus betrachten. Ich frage mich, ob der betrunkene Hüne blau genug ist, um ihn im Ernstfall umzuwerfen. Aber irgendwie habe ich nicht das Gefühl, wirklich viel gegen ihn ausrichten zu können. Wenigstens scheint er das Klappmesser, das er direkt vor mir geparkt hat, für den Moment wieder vergessen zu haben.
Während ich die Nummer der Polizei wähle, winkt mein Gegenüber wild gestikulierend mit seiner Zigarette: "Gibst du Feuer, Votze!"
"Rauchen verboten!", fahre ich ihn an.

Ich liebe die Polizeidienststelle, die meiner Arbeitsstelle am nächsten ist. Die Häufigkeit unserer Anrufe hat uns dort bekannt gemacht. Wir werden immer ernst genommen. Vermutlich unter anderem, weil wir ein Büro sind, in dem ausschließlich Frauen arbeiten. Am Besten sind die ruhigen, vollkommen durchdachten Handlungsanweisungen, die man am Telefon bekommt, während man darauf wartet, dass die Polizei eintrifft. Mir wird genau gesagt, was ich tun und sagen, wie ich auftreten soll. Vieles davon tue ich intuitiv. Aber die Stimme am anderen Ende des Telefons beruhigt mich. Sie warnt mich, vorsichtig zu sein und mich selbst nicht in Gefahr zu bringen, bringt mich aber gleichermaßen dazu, die Situation unter Kontrolle zu halten. Ich fühle mich begleitet in einer Situation, in der ich eigentlich das Gefühl haben sollte, allein zu sein. Selbst dann, als mein Gegenüber das Klappmesser tatsächlich in die Hand nimmt.

Nur hinterher. Hinterher fängt mein ganzer Körper an zu zittern.
Reagiert mit Kopfschmerzen.
Nach der Arbeit steige ich in mein Auto. Ich muss einen Kaugummi von der Frontscheibe pflücken. Und verpasse auf dem Heimweg meine Autobahnabfahrt. Wie immer an Tagen, die mir in den Knochen stecken. Später will ich Nuden kochen, schalte aber stattdessen den Backofen an und bemerke meinen Fehler erst nach 20 Minuten. Weitere 15 Minuten später fällt mir auf, dass ich nach meinem ersten Fehler die falsche Kochplatte angestellt habe. Und ich vergesse das Wasser zu salzen.
Weil: Das mit der Konfrontation und den Konflikten das kann ich eigentlich gar nicht. Bin zu friedlich. Zu sanft. Zu gutgläubig.
Und irgendwie auch zu unfähig.



*Zuerst hatte ich hier einen Namen stehen. Natürlich einen erfundenen Namen. Dann fiel mir auf, dass man vom Namen auf die Nationalität schließen könnte. Das kam mir falsch vor. Auf der anderen Seite kann ich durch meinen Beruf statistisch beweisen, dass es Nationalitäten gibt, die eher zu Ausrastern neigen. Zumindest wurde mir bisher in fünf von sechs Fällen von Menschen der gleichen Nationalität angedroht, dass ich "schon sehen werde, was ich davon habe und meine gerechte Strafe erhalten werde". <- Und jetzt frage ich mich, ob ich diesen Satz so stehenlassen kann, weil er so unwahrscheinlich rechtsradikal klingt. Deshalb zur Klarstellung: So ist er nicht gemeint.

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