„Manchmal ist es nur ein kleiner Schritt zwischen
dem Wissen, was man zu tun hat, und dem Handeln, das darauf folgt. Und
manchmal kann sich dazwischen eine unendliche Ebene ausbreiten.“
(David Levithan: Noahs Kuss)
Ich
war nie gut darin, mich zu wehren. Eigentlich war ich immer besser im
einstecken oder darin, die zweite Wange hinzuhalten. Das mag zum einen
daran liegen, dass ich leider nicht der mutigste Mensch auf dieser Welt
bin. Zum anderen bin ich über alle Maßen friedfertig. Aber ich habe mich
in der letzten Zeit verändert. Ich werde mir selbst bewusster und weiß
um Schwächen und Stärken. In den meisten Momenten ist mir bewusst, dass
ich auch mit Fehlern grundsätzlich (einigermaßen) liebenswert bin. Zwar
gibt es immer wieder auch schlechte Momente, allerdings sind diese
wesentlich seltener vertreten als bis vor ein paar Monaten und Jahren.
Es ist trotzdem ein bisschen peinlich zuzugeben, dass ich erst 30 Jahre
alt werden musste, bis ich mich getraut habe, mich zu verteidigen. Ich
lerne es, mich abzugrenzen, mich von Dingen zu distanzieren, die ich
nicht will und das deutlich zu vertreten.
Vor über einem Jahr hat
mich jemand per Telefon terrorisiert. Dabei waren die nächtlichen Anrufe
aber noch mein kleinstes Problem. Als schwieriger erwiesen sich für
mich die zahlreichen Text-, Bild- und Videonachrichten, die mir der
unbekannte Absender zu jeder Tages- und Nachtzeit zukommen ließ. Sexuell
bin ich wenig zu schocken. „Sha.des of Gr.ey“ ist für mich ein
(unfassbar schlecht geschriebenes) klischeebeladenes Buch, das BDSM im
Kern seiner Sache nicht begreift. Anfangs konnte ich sexuelle
Nachrichten von der mir unbekannten Nummer demnach noch mit Humor nehmen
und ignorieren. Als dann Bilder von dem Penis des Absenders, kurze
Pornos und Textnachrichten, die sich gezielt auf mich bezogen, folgten,
wurde es allerdings gruseliger. Und ernst nahm ich es ab dem Zeitpunkt,
zu dem Bilder folgten, die … für die ich heute noch keine Worte finde.
Eines ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Eine von Kopf bis Fuß
aufgespießte Frau, die gefesselt und vollkommen nackt über einem
brennenden Feuer … brät.
Nun bin ich, freundlich formuliert, nicht
unbedingt ein unbeschriebenes Blatt, was Übergriffigkeit in sexueller
Hinsicht angeht. Das hat es mir einerseits noch schwerer gemacht,
dagegen anzugehen. Denn mir war bewusst, dass es einiges in mir
aufwühlen wird, wenn ich beginne, mich damit auseinanderzusetzen und
dagegen vorzugehen. Andererseits war es genau das, was mir die nötige
Wut gab, zur Polizei zu marschieren und das zur Anzeige zu bringen. Denn
ich mag mir nicht mehr alles gefallen lassen. Ich möchte gut behandelt
werden. Das bin ich mir selbst schuldig und das bin ich auch wert.
Die
Reaktionen bei der Polizei waren für mich eher schwierig: Von
Polizisten fühlte ich mich eher belächelt. Ich solle das einfach
aussitzen, den Besitzer der Nummer nur einmal auffordern, seine Anrufe
und Nachrichten zu unterlassen und ihn dann ignorieren. Das half mir
wenig: Vor allem weil aus den Nachrichten deutlich hervorging, dass ich
nicht unbeobachtet war. Und zu wissen, dass man beobachtet wird und
gleichzeitig mit sexuellen Phantasien konfrontiert zu werden, die
gewalttätig bis blutig sind und sich direkt auf einen selbst beziehen,
ist... beängstigend. Außerdem wurde mir mehrfach empfohlen, doch einfach
die Telefonnummer des Absenders zu sperren. Aber das konnte ich nicht.
Es mag seltsam klingen und nicht nachvollziehbar sein, aber indem ich
die Nachrichten zuließ, hatte ich das Gefühl, den Absender wenigstens
noch zu einem kleinen Teil kontrollieren zu können. Wer mir gerade
Pornos und Bilder schickt, steht zumindest nicht gleich hinter der
nächsten Ecke und wartet auf mich. Zumindest stellte ich mir das damals
so vor. Ich hatte Angst, den Absender, in dem ich seine Nummer sperre,
zu drastischeren Maßnahmen zu zwingen.
Schließlich reichte man
mich in der Polizeiwache an eine Beamtin weiter, die mich ernst nahm.
Besonders dankbar war ich dafür, dass sie verstehen konnte, warum ich
das anzeigen möchte. Von einer Anzeige wegen sexueller Belästigung riet
sie mir ab. Diese würde mit hoher Wahrscheinlichkeit einfach eingestellt
werden. Stattdessen erstattete ich also Anzeige wegen Beleidigung.
Besonders viel Hoffnung machte mir die Polizistin nicht: Um die Nummer
des Absenders herauszufinden, bräuchte man einen Beschluss der
Sta.atsa.nwalts.chaft. Diese müsste den Fall dazu als dringlich
erachten. So verließ ich das Amt eher resigniert. Irgendwann verstummten
die Anrufe und Nachrichten. Begannen noch einmal, kurz bevor ich,
Wochen später, zur Zweitaussage geladen wurde. Bei diesem Termin erfuhr
ich den Namen desjenigen, der mir schrieb. Man befragte mich zu meinem
Verhältnis zu ihm und erzählte mir, dass er einer Vorladung nicht
gefolgt wäre und man sich darum kümmern werde.
Vor kurzem hatte
ich einen Brief im Briefkasten, der mich darüber informierte, dass das
Verfahren eingestellt worden ist. Der Beschuldigte konnte ermittelt
werden. Er ist alkohol- und medikamentenabhängig, weshalb davon
auszugehen ist, dass er sich zum Zeitpunkt der Taten in psychischen
Ausnahmesituationen befunden hat und nur eingeschränkt schuldfähig
beziehungsweise schuldunfähig ist. Er wäre durch seine Vernehmung und
das Strafverfahren hinreichend gewarnt worden. Weiterhin befände er sich
zurzeit in der geschlossenen Psychiatrie. Von einer weiteren
Strafverfolgung werde abgesehen.
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