„Es muss von Herzen kommen, was auf Herzen wirken soll.“
(Johann Wolfgang von Goethe)
Als
ich zum Empfangstresen komme, steht er da, einer meiner geliebten
Mitarbeiter. „Na, mein Engel?“, schäkert er mit mir. Ich lächle.
Aufrichtig. „Na, mein Sonnenblümchen?“, antworte ich ihm und freue mich,
ihn zu sehen. Weil es der Freitag vorm Jahreswechsel ist, ist es ruhig
im Büro und ich habe ein bisschen mehr Zeit als sonst. Also frage ich
ihn, was es Neues gibt und wie es ihm geht. Er kommt ins Reden und ich
spüre, dass er unser Gespräch genießt, dass es ihm gut tut, dass ich ihm
Interesse entgegenbringe und vor allem zuhöre. Weil er seit Jahren
seinen pflegebedürftigen Vater versorgt, der sich um den Verstand
getrunken hat, verbringt er viel Zeit Zuhause. Er sieht immer nur die
gleichen Menschen, erzählt er mir: Seinen Vater und die
Krankenschwester, die sich um seinen Vater kümmert, während er arbeiten
ist. Er sagt es nicht, aber ich weiß, dass das für ihn nicht so leicht
zu ertragen ist. Es ist kein einfaches Leben, das er führt.
Als
ich ihn eingestellt habe, diesen Mitarbeiter, war ich mir sicher, dass
er nicht lange bei mir arbeiten würde. Unabhängig von der
Doppelbelastung Arbeit und Familie, der er durch seinen Job bei mir und
seinen pflegebedürftigen Vater ausgesetzt ist, ist er der einzige
Mitarbeiter, den ich habe, der nicht dreischichtig arbeitet, sondern nur
Nachmittags. Hinzu kommt, dass er Analphabet ist. Dadurch ist er nur
eingeschränkt arbeitsfähig und es ist nicht gar nicht mal so einfach,
ihn in Arbeit zu halten. Trotzdem ist es mir eine Herzensangelegenheit,
immer wieder passende Aufgaben für ihn zu finden. Denn er ist
zuverlässig und fleißig. Und ich muss zugeben, dass ich ihn einfach
sehr, sehr gerne habe.
„Was machst du an Silvester?“, frage ich ihn.
Es
sind nur Sekunden, innerhalb derer die Stimmung nun kippt. Plötzlich
wirkt der Mann, der mir gegenübersteht, klein und zerbrechlich. Er hat
Tränen in den Augen. „Ach, was soll ich denn schon machen?“, fragt er
mich leise. Sein Ton klingt... erschöpft und er blinzelt leicht gegen
seine feuchten Augen an, „Ich bin Zuhause. Mit meinem Vater. Und
vielleicht kommt auch die Krankenschwester nochmal zu Besuch. Ich kann
ja nicht weg. Muss mich ja um den Vater kümmern.“
Ich muss
schlucken, bevor ich ihm antworte. Möchte am liebsten meine Hand auf die
seine legen, weiß aber, dass es Grenzen gibt, die man als Chef nicht
unbedingt überschreiten sollte.
„An Silvester feuere ich eine
Rakete in den Himmel und wünsche mir etwas für dich.“, sage ich und
lächle ihn warm an. Wenn ich ihm gegenüber stehe, verspüre ich immer das
tiefe Bedürfnis, ihn ein ganz kleines bisschen glücklicher zu machen.
Es ist mir wichtig, ihn aufzumuntern.
Ich weiß, dass er sein
ganzes Leben darauf aufgebaut hat, seinem Vater das Leben so lebenswert
zu machen, wie es noch möglich ist. Mittlerweile hat der Vater sogar ein
Glöckchen neben dem Bett. Damit er läuten kann, wenn er Nachts etwas
braucht oder sich nicht wohlfühlt. Ich weiß, wie oft er die Glocke
läutet. Häufig. Noch häufiger als häufig. Und das mein Mitarbeiter das,
zusätzlich zu seinem Vollzeitjob bei mir, noch stemmen kann, grenzt an
ein kleines Wunder. Er opfert sein eigenes Leben dem seines Vaters. Ohne
daran zu zweifeln, ob dies die richtige Entscheidung ist. Er zweifelt
nicht einmal dann, wenn er Nachts vom Glöckchen geweckt wird und
emotional und körperlich so erschöpft ist, dass er zu weinen beginnt.
All das erzählt er mir manchmal, wenn wir Zeit haben und ein paar ruhige
Minuten miteinander teilen. Er ist einfach von Herzen gut.
So
kommt es, dass ich am 31.12.2016 meine Wohnung um Mitternacht verlasse,
mich auf die Straße stelle, eine Rakete in den Himmel steigen lasse und
mir dabei etwas für ihn wünsche. Ich bin sicher, dass er alles Glück der
Welt verdient hat. Und ich nehme mir vor, mein eigenes Leben ein wenig
mehr zu schätzen. Mir und meinen Lieben geht es gut.
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