Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Von einer E-Mail

Ausschnitt:

Ah, ich wollte dir noch etwas erzählen:

Wir beschäftigen einen Russen. Olek, so ist sein Name. Oleks Familie lebt in Russland. Alles Geld, was er bei uns verdient, schickt er seiner Familie. Er ist etwa... 40 Jahre alt und vermisst seine Frau, seine Eltern und seine Kinder sehr. Das merkt man unter anderem daran, dass er immer ganz viel Körperkontakt sucht. Anfangs war mir das unheimlich und ich bin immer zurückgeschreckt. Dann habe ich mit meinem Chef darüber gesprochen und er hat mir erklärt, was Olek fühlt (Ich kannte ihn ja nicht und wusste sein Verhalten nicht einzuordnen.). Irgendwann habe ich bemerkt, dass er ganz liebe Augen hat. Umso öfter ich ihn sah, desto mehr verflüchtigten sich meine Ängste.
Oleks Eltern sind vor ein paar Tagen ums Leben gekommen. In Russland. Er war heute bei uns. Hat erzählt davon. Es war nicht etwa so, dass er Trost gesucht hat. Stattdessen hat er einen Arm um meine Taille gelegt, mich, ganz behutsam, mit seinen Riesenpranken umfasst, und mich umarmt. Dabei hat er immer wieder "Anja, Anja" geflüstert. Sein Kosename für mich. Er mag mich. Ein trauriger Olek ist schwer zu ertragen.
Olek möchte jetzt die Beerdigung seiner Eltern finanzieren. "Ich kann auch 24 Stunden arbeiten, Anja. Das habe ich auch in Russland gemacht. In Bergwerk. Bin ich... gewöhnlich, Anja. Nein, wie sagt ihr? Gewohnt? Habe ich immer gemacht, Anja. In Bergwerk gearbeitet.". Es ist schwer, ihm zu erklären, dass er hier nicht so lange arbeiten darf. In Deutschland.
...
Ja. Das wollte ich dir erzählen.
Es geht uns gut hier, weißt du das?
Bei allen Lebensgeschichten, die ich jeden Tag höre, wird mir immer deutlicher, dass es uns gut geht.
Deshalb sollten wir jeden Tag ein Fest feiern. Einfach, weil wir gesund sind und sicher. Wir sind am Leben.

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