„'Bin ich geheilt?' - 'Nein, sie sind jemand, der anders ist und den anderen gleichen möchte. Das ist meiner Meinung nach eine schwere Krankheit. '“
(Paulo Coelho: Veronika beschließt zu sterben)
Mein Finger liegt auf dem Nummernpad neben der Klingel. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob ich anstatt des Codes einfach die 1-1-2 wählen sollte und kichere leise in mich hinein. Nein, ich habe keine Lust auf diesen Abend, aber ich habe ein Versprechen einzulösen. Schweren Herzens gebe ich den fünfstelligen Pin ein und warte. „Guten Abend, wir schicken ihnen einen Fahrstuhl.“, schallt es mir entgegen. „Dankeschön.“, erwidere ich knapp und mir ist überbewusst, dass ich bereits damit aus der Rolle falle. Eine Stimme in meinem Kopf faucht mich unfreundlich an: „Darauf antwortet man nicht! Das schickt sich nicht.“. Ich kontere kühl: „Ich bin gerne freundlich.“. Und versuche irgendwie, meinen Kopf auszuschalten.
Der gläserne Fahrstuhl bringt mich nach oben. Je höher er mich trägt, desto beeindruckender wird der Blick über die Stadt. Hunderte von beleuchteten Fenstern beginnen vor meinen Augen zu tanzen, das Wahrzeichen der Stadt erhebt sich über den Häusern und alles, was sich über ihm befindet, sind ein paar vereinzelte Sterne. Ich lege meine Hand auf das kühle Glas. Ohne darüber nachzudenken, nähere ich mich der Scheibe mit dem Mund und hauche meinen Atem dagegen. Mein Zeigefinger malt ein kleines Herz auf das beschlagene Glas. Bis es plötzlich piept und ich mich erschrecke. Die Türen des Fahrstuhls öffnen sich, der Blick der Empfangsdame ruht auf mir und ich kann regelrecht spüren, wie ich rot werde.
„Darf ich ihnen die Garderobe abnehmen?“, werde ich gefragt. Ich habe Lust, mich daneben zu benehmen. Wirklich. Dennoch erinnere ich mich daran, dass ich hier bin, um ein Versprechen zu halten. „Gerne.“, sage ich und lasse mir meine Jacke abnehmen.
Sie gleitet meinem Gegenüber nahtlos aus der Hand. Ich bin schneller, bücke mich und hebe sie auf. Das Gesicht, in das ich in der nächsten Sekunde schaue, ist feurig rot. „Das tut mir leid!“. Ich lächle. „Das macht mir gar nichts, das war meine Schuld.“, sage ich freundlich. „Wirklich, das war ungeschickt von mir.“. „Es ist wirklich in Ordnung und gar kein Problem.“, sage ich und werde ein bisschen verlegen, „Das ist nur eine Jacke. Selbst wenn sie dadurch dreckig geworden wäre, was sie, meiner Meinung nach, nicht ist, dann würde ich sie einfach in die Waschmaschine stecken.“. Zu viele Informationen. Ich bin mir dessen mehr als bewusst. Ich gebe zu viel preis. In jedem einzelnen Wort. Und ich kann nicht anders. Ich kann mich nicht verstellen.
Sie tritt auf mich zu, greift nach meiner Hand und haucht mir einen Kuss auf die Wange. Ihre Augen leuchten. „Du bist gekommen…“, stellt sie fest. Es kostet mich Kraft, dem Impuls zu widerstehen, ihr meine Wange zu entziehen. Ich empfinde diese Luftküsse als so unglaublich affektiert. Stattdessen versuche ich, zu lächeln. „Ich habe dir versprochen, dass ich komme…“, erwidere ich und begrüße sie zärtlich. Ich weiß, dass ihr das hier wichtig ist. Ich verstehe es nicht, weiß nicht, woher diese Sehnsucht kommt, immer mehr sein zu wollen, als man ist, aber ich kann sie akzeptieren. Solange ich nicht gezwungen bin, sie mir selbst anzueignen.
„Es sind schon alle da.“, flüstert sie mir ins Ohr und streichelt mit dem Daumen über meinen Handrücken, während sie mich in den Saal hineinführt, „Ich habe dir einen Platz neben dem … Attaché ausgesucht.“. „Das ist lieb von dir…“, antworte ich, bemüht, so auszusehen, als würde mir das etwas bedeuten. Das tut es nicht. Im Gegenteil. Es gibt wenige Veranstaltungen, bei denen ich mich unwohler fühle, als diese. Ich gehöre hier nicht hin, bin hier nicht Zuhause, kann nicht ich sein. Ich kann damit so gar nichts anfangen, empfinde diese Pflichtküren als rein kräftezehrend. Nicht weniger. Und eigentlich meide ich sie. Wann immer es mir möglich ist. Was zur Folge hat, dass ich, mit kleinen Gesten wie diesen, manchmal den einen oder anderen Menschen, der mir am Herzen liegt, glücklich machen kann.
Anderthalb Stunden später bin ich wirklich genervt von dieser Veranstaltung. Es ist nur ein weiteres Mal, dass mir deutlich wird, warum ich solche Treffen normalerweise versuche zu meiden. Ein Haufen weißhaariger, alter und verkopfter Menschen diskutiert über das aktuelle Welt- und Wirtschaftsgeschehen. Tiefe Falten zieren die Gesichter, die moppeligen Körper stecken in teuren Anzügen, wohlgenährte Bäuche hängen über den Gürteln, geballter Pseudo-Intellekt trifft auf absoluten Narzissmus. Die Dame neben mir äußert in einer Tour so laut beifallheischende Laute zu den Worten des Vortragenden, dass es fast schon unhöflich ist, der Mann, der dem Referierenden eine Frage stellt, fängt mitten in der Antwort desjenigen an, sich lautstark über eben diese zu mokieren und eine Dame, die nur ein wenig älter zu sein scheint, als ich es bin, äußert die absurdesten Theorien über Nuklearangriffe, denen ich jemals beiwohnen durfte.
Als ich – allein – wieder in den Fahrstuhl steige, bin ich so wütend, dass ich meine Faust am liebsten an der Glasscheibe erproben würde. Die Worte meiner Begleitung tanzen in meinem Ohr. „Bleib doch, Kind, knüpfe Kontakte!“ oder „Du kannst hier so gut netzwerken! Komm, ich stell dich dem … Attaché vor! Ich habe vorhin schon ein gutes Wort für dich eingelegt…“. Elitäres Rumgepupse.
Wahrscheinlich bin ich einfach nur dumm. Aber ich will das alles nicht, ich habe kein Interesse daran, meine Seele zu verkaufen. Und so würde es sich anfühlen, würde ich es versuchen, Beziehungen zu forcieren. Ich bin damit aufgewachsen und ich finde es zum Kotzen. Ich bin Windlicht. Ich bin 28 Jahre alt, habe zweimal studiert und finde keinen Job, aber ich habe einen Haufen guter Beziehungen. Ich habe ein teures Handy, einen guten Laptop und ein kleines, kaputtes Auto, aber lebe seit mittlerweile fast einem dreiviertel Jahr (!) komplett ohne Geld. Ich verbringe meine Tage mit nicht vergüteten Praktika, erbe einen Bausparvertrag und finde Networking zum Kotzen. Was ich bin, will ich selbst bestimmen, was ich schaffe, möchte ich mir selbst erarbeiten und meine Zukunft mag ich selbst bespielen. Ganz frei. Oder wenigstens so frei, wie es mir möglich ist.
Ich liebe es, mich normal zu kleiden, Mut zur Hässlichkeit, Chucks und Parka und Bommelmütze, auch gerne in verschiedenen, von mir aus sich beißenden Farben, anzuziehen, mit dem Hintern auf nacktem Beton zu sitzen, mir zu Jacksons „Beat it“ die Seele aus dem Leib zu schreien und für meine Rechte zu demonstrieren. Ich will nicht über Ungerechtigkeiten und Missstände diskutieren, mag keine Zeit verschwenden. Deswegen suche ich den Kontakt zu Menschen und gehe auf die Straße. Ich bin nicht autonom – bei weitem und überhaupt ganz und gar nicht –, aber ja, ich habe schon, im übertragenem und auch weniger übertragenem Sinne, Steine geschmissen. Ich möchte über Möglichkeiten sprechen, denn ich weiß, warum: Ich lasse mir die Geschichten, der Menschen, die mich umgeben, erzählen. Von ihnen lasse ich mich bewegen. Ich habe gar kein Interesse daran, zufrieden und satt zu werden. Ganz im Gegenteil: Offen will ich bleiben, ausgewogen und gerecht. Aber dann, wenn es angebracht ist, will ich ungemütlich werden. Ich möchte Anreize geben, ebensolche bekommen und Dinge verändern. Ohne Makeup. Ich will nur ich sein dürfen.
Trotzdem denke ich manchmal, dass ich in Oktaven singe. Wobei es doch eigentlich um die Terz geht.
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