Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Vom Jungsein



Er ist ein guter Freund und einer der wenigen, die noch wissen, wie man echte Umarmungen verteilt. Umarmungen, die nicht an einen feuchten Händedruck erinnern, sondern solche, die Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Eine Umarmung von ihm kommt von Herzen. Sie gleicht einem Kuss oder einem „Ich liebe dich“. Sie ist viel mehr als ein halbherziger Versuch jemandem Zuneigung auszusprechen, denn sie ist ehrlich gemeint und er verteilt sie großzügig, über das Ritual der Begrüßung hinaus. Und ich? Ich finde das großartig. 
Ich mag es, mich von ihm umarmen zu lassen, ihn selbst zu umarmen, wann immer ich die Möglichkeit dazu habe. Oft sehen wir uns jedoch nicht mehr, denn schon lange wohnen wir nicht mehr in der gleichen Stadt. Heute brauche ich immer ein wenig mentale Vorbereitung, bevor ich ihn treffe. Wir sind einander zwar ähnlich – nahezu einander verwandt – aber trotzdem lebt er ein vollkommen anderes Leben als ich. So weiß ich bereits vorher, dass ein Besuch bei ihm mich aufwühlen wird. Mich aufrütteln wird. Sowohl intellektuell als auch emotional. Ich genieße diese Momente mit ihm. Die gemeinsamen, nahen Momente. Aber die Intensität erschreckt mich, ein jedes Mal wieder. Ich kann sie nur begrenzt ertragen. Weil er, und das Leben, das er führt, so speziell sind. Sein Leben verfügt über eine Leuchtkraft, die mich fast blendet. Heute besuche ich ihn zum ersten Mal in seiner neuen Wohnung.

Als er mich vom Bahnhof abholt, muss ich mich bemühen, ihm gegenüber Worte zu finden. Ich habe Angst. Wovor, das kann ich nicht genau benennen. Wir sind Freunde. Mann und Frau. Und gleichzeitig so viel mehr. Oder so viel weniger? Wir sind nur wir selbst, wie viel auch immer das sein mag. Ich muss vor ihm keinen Seelenstriptease mehr hinlegen, denn er kennt selbst die dunkelste Ecke meines Herzens. Es braucht auch keine Worte mehr. Ein Besuch bei ihm ist ein einziges Fallen. So einfach wie schwer. Um des aufgefangen werden willens. 

Es geht ihm genauso. Auch er findet jetzt noch keine Worte. Wir sind nur randvoll mit Gefühl für den anderen. Ich sehe es nicht nur in seinen Blicken, ich kann es an seiner Körperhaltung ablesen. Er ist noch zappliger als sonst. 

Wir laufen einmal quer durch die Innenstadt, um zu seiner Wohnung zu kommen. Ein ganzes Stück. Er trägt meine Tasche. Kaum ein Blick, der die kleine Stadt bewundert. Mehr Blicke in seine Augen. Ganz leise stehlen wir die Herzen des anderen. Er erzählt mir, dass er letzte Woche versucht hat, einem alten Baum in der Nähe Post zu schicken. Er hätte so einsam gewirkt. Lächelt, als er erzählt, wie er sich nachts eine Briefmarke am Automaten zog und diese zusammen mit der Adresse an einem Ast befestigte, den er auf der Straße fand. Kam aber nicht an. Sagt er. Ein bisschen traurig. Die Welt ist manchmal ein wenig zu unflexibel für ihn.

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Als wir seine Wohnung erreichen, hole ich ein letztes Mal tief Luft. Ich muss daran denken, wie sehr mich der anstehende Besuch bei ihm schon Tage vorher aufgewühlt hat. Die letzten zwei Nächte habe ich von Weltuntergängen und Wasserfluten geträumt. Von Gewichten. Meine Glieder schmerzen. Ich weiß, dass ich ab dem Moment, in dem ich seine Wohnung betreten werde, in einer völlig anderen Welt sein werde. Eine Welt, die um ein vielfaches spontaner, kreativer und lebendiger ist als die meinige. Um ein vielfaches farbiger. Der Türknopf unter meiner Hand fühlt sich kalt an. „Kreativhölle“ flüstert die Tür, während mein Herz schon längst über die Schwelle gesprungen ist.

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Ich glaube, man könnte mir hundert Wohnungen aufzeigen und ich würde die seinige sofort erkennen. Diese Räume sind so sehr Spiegelbild seiner Seele, dass es mich schon fast ein wenig erschrickt, wie sehr er sich erkennen lässt. Chaotisch, künstlerisch, bunt. Zeig mir deine Wohnung und ich sage dir, wer du bist. Denke ich. Noch während ich mich meiner Schuhe entledige, sticht mir das legendäre Plakat in die Augen. Auf einem großen, weißen Stück Styropor steht in verwackelten, grünen Lettern geschrieben: „Freunde der Realität“. Sofort habe ich die Melodie des Liedes im Kopf. Während ich anfange durch seine Wohnung zu springen und dabei fürchterlich schräg zu singen, beginnt er aus vollem Herzen zu lachen und stimmt ein: „Und ich wär´ hier so gerne Zuhause, denn die Erde ist mein Lieblingsplanet, doch ich werde hier nie so Zuhause sein, wie die Freunde der Realität…“.
Plötzlich und unerwartet übermannt mich die Freude, hier zu sein.

Seine Wohnung ähnelt meiner – ich verliebe mich sofort. Es gibt so viel zu sehen! So verliere ich mich im Staunen und lasse mich von Eindrücken überwältigen. Viele Geschichten sind hier zu finden.  Von unbeschreiblich hohem ideellem Wert. Durch seine ganze Wohnung ziehen sich Bilder und bunte Handabdrücke aus Acrylfarbe. Selbst die Fliesen im Bad sind damit gespickt. An die Wand über seinem Bett hat er letzte Woche Farbbomben geworfen. Die Welt ist viel zu grau, sagt er oft und ich bin ein bisschen verliebt in das verschmitzte Grinsen, das sich dabei auf seine Lippen stiehlt. Seine Wohnung ist alles andere als das. Überall sind selbstgebastelte, farbige und teilweise zweckentfremdete Gegenstände zu finden: Ein Fernseher, der als Lampe dient, eine Palette, die als Tisch genutzt wird und ein Tuch, das, zur Hängematte umfunktioniert, dazu einlädt, die Seele baumeln zu lassen. Aber egal, in welches Zimmer in seiner Wohnung man schaut, eines ist ihnen allen gemein: Überall stapeln sich Bücher. Im Regal, neben dem Bett, auf den Tischen, im Bad und selbst der Boden ist flächendeckend mit ihnen zugepflastert. Hermann Hesse zieht sich durch die Zimmer. Der Steppenwolf. Demian. Narziß und Goldmund. E. T. A. Hoffmann. Klein Zaches genannt Zinnober. Gardener. Sophies Welt. T. C. Boyle. Talk Talk. Dostojewski. Der Spieler. Erich Fromm. Humanismus als reale Utopie. Die Kunst des Liebens.

Ich kann mich kaum abwenden, so viele Dinge gibt es zu entdecken. Die meisten davon kenne ich schon, aber ich erinnere mich gern. An unsere gemeinsame Zeit, die gemeinsamen Erlebnisse. Seine Wohnung erzählt viele Geschichten über uns. Allesamt handeln sie von Achterbahnfahrten, die Ihresgleichen noch immer suchen und über denen wir es fast geschafft hätten einander zu verlieren, aus Angst vor den vielen Gefühlen für einander. Es spielt keine Rolle. Heute sind wir einander sicherer als je zuvor. Beide könne wir uns nicht vorstellen, dass es etwas gibt, das uns trennen könnte. Wir vertrauen einander nicht nur blind, wir vervollständigen einander.

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Kaffee oder Rotwein? Unterbricht er meine Gedanken. Ich zögere. Er lächelt warm, bevor er liebevoll eine Augenbraue nach oben zieht. Was für eine Frage, spricht er zu sich selbst, beides, natürlich. Während er das schwarze Heißgetränk aufbrüht und die Weinflasche entkorkt, setze ich mich auf sein Sofa. Ich atme tief durch und frage mich ernsthaft, warum es mir solche Angst macht ihn zu besuchen.

Als er mir das Weinglas reicht, frage ich ihn, wie es ihm geht. Er erzählt ein bisschen. Von seinem Studium, von seinen Freunden. Von einer speziellen Freundin, in die er vielleicht ein bisschen verliebt ist, was er aber selbst nicht glauben kann. Es ist ein bisschen wie mit dir, erzählt er. Aber nicht ganz so intensiv. Weißt du noch, wie das war, damals, als wir so vollkommen unvorbereitet aufeinander prallten? Diese Intensität und die Kreativität, die wir zusammen freisetzten, habe ich so nie wieder erlebt. Aber mit ihr ist es ähnlich. Es ist schön. Verrückt. Aber manchmal so emotional, dass ich es kaum auszuhalten vermag. 

Er erzählt von den Dingen, die sie miteinander tun und davon, dass er für sie Rosen kauft. Ich verstehe nicht, warum sie nicht zusammen sind. Und wehre mich innerlich dagegen, sie total blöd zu finden. Sie muss ja toll sein, wenn er sie mag, versuche ich mir einzureden. Aber… vielleicht ist sie trotzdem ein bisschen doof? Ich meine… das kann ja sein, oder? Menschen, die nicht sehen, was für ein toller, total besonderer Mensch er ist, finde ich etwas (sehr) seltsam. Ich muss damit aufhören, ihn ständig beschützen zu wollen, rufe ich mich selbst zur Raison. Andererseits weiß ich, wie sehr er sich in anderen Menschen verlieren kann, wie sehr er zum Extremen, zur fast vollständigen Selbstaufgabe, neigt und sich für andere Menschen verausgabt. Ob sie das wohl wert ist?

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Wir leeren die Flasche Wein. Mittlerweile sitzt er auf dem Sofa und ich auf dem Boden vor ihm. Ab und zu streckt er seine Hand nach mir aus. Streicht mir über den Kopf. Grobmotorisch wie eh und je, ziehe ich ihn auf. Ich ärgere ihn solange bis er beginnt mich zu kitzeln und ich schreiend vor ihm flüchte. Draußen regnet es und ist ganz kalt. 

Hier, bei ihm, ist es warm und gemütlich. Trotzdem verspüre ich den Drang nach frischer Luft und Bewegung. Es ist die Angst in meinem Bauch, die mich antreibt. Das Gefühl, vor etwas, dass ich noch nicht genau zu benennen vermag, flüchten zu wollen, ergreift von mir Besitz. Ich will nicht nachdenken, mag mich damit nicht auseinandersetzen. Vielmehr mag ich mich bewegen, rausgehen. Ich will Spaß haben, seine Anwesenheit einfach genießen. Als ich ihm vorschlage, uns in den Park zu setzen, stimmt er sofort zu. Bewaffnet mit dicken Decken, einer Armeeplane und zwei weiteren Flaschen Rotwein machen wir uns auf dem Weg. Im Park angekommen legen wir uns auf die menschenleere, feuchte Wiese. Es hat aufgehört zu regnen und der Himmel klart allmählich auf. Wir schweigen viel. Beobachten die vorbeiziehenden Wolken. Ab und zu nur fallen Worte. Er schwärmt vom Himmel über der Stadt und ich lasse meine Gedanken träge treiben. Ich bin so stolz auf ihn, auf denjenigen, zu dem er geworden ist. Muss an ein Filmzitat denken: Aus dir wirst du. Aus ihm wurde er. Und er ist so wunderbar, als der Mensch der er ist. 

Seiner Stimme lauschend, schließe ich die Augen und habe zum ersten Mal seit langer Zeit das Gefühl ganz in mir selbst zu ruhen und ohne Kompromisse Ich sein zu dürfen. Wir können einfach nur sein. Ohne irgendeine Erwartung erfüllen zu müssen.

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Als es dunkel wird, machen wir uns auf den Rückweg. Er kocht uns Abendessen. Ich beobachte ihn dabei, wie er Kartoffeln, Paprika und Tomaten schnippelt und alles auf einem Backblech in den Ofen schiebt. Während er die Kartoffeln würzt und Käse reibt wird mir nachdrücklich angetragen mich hinzusetzen und mich auszuruhen. Du hattest genug Stress und Ärger in letzter Zeit! ruft er. Und: Ich mache mir Sorgen um dich! Setz dich einfach hin und mach mal nichts! Das kann doch nicht so schwer sein?! 

Ich lese die Postkarten, mit denen die Küche gepflastert ist. Auf einer steht: „A clean house is a sign of a wasted life“. Mit roter Farbe steht quer über die Küchenfront geschrieben: „Die fetten Jahre sind vorbei!“.

~.~
Nach dem Abendbrot stöbere ich weiter in seiner Wohnung herum. Versuche die verschiedenen Eindrücke in mich aufzusaugen. Je länger ich verweile, desto mehr finde ich mich selbst bei ihm. An der Wand über dem Schreibtisch hängen kleine Zettel. Allesamt von mir. Auf einige habe ich Zitate geschrieben, andere zeigen verschiedene kleine Zeichnungen oder Karikaturen von uns. Auch ein Bündel voller Strohhalme hängt dort. Als Blumenstraußersatz. Am meisten aber berührt mich die bemalte, alte Leinwand, die an der Tür zu seinem Schlafzimmer hängt. Auf ihr ist ein Motiv abgebildet, dass ich damals oft zeichnete: Sonne, Wolken, Mond und Sterne. Seifenblasen. Eine Strickleiter zu einer Schaukel, die am Regenbogen befestigt ist. Bemühte Zweideutigkeit. Totaler Schrott – und das ist keine Übertreibung. Doch ist es auch nicht das Bild, das mir so nahe geht. Es sind die Zeilen, inmitten des Bildes. Zeilen, die unsere Suche, unsere Lust auf das Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, besser ausdrücken, als jeder Satz, den ich selbst formulieren könnte. Nietzsche eben.

Flamme bin ich
Ja, ich weiß, woher ich stamme:
Ungesättigt gleich der Flamme
glühe und verzehr ich mich.
Licht wird alles, was ich fasse,
Kohle, alles, was ich lasse
– Flamme bin ich sicherlich.

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Als die dritte Flasche Wein sich ihrem Ende nähert ist es 3.30 Uhr. Die Nacht ist noch jung und zu viele Worte, die noch nicht gefallen sind, liegen zwischen ihm und mir. Die wenige Zeit, die wir miteinander verbringen, muss ausgenutzt und mit Leben gefüllt werden. Wir beschließen, ein wenig spazieren zu gehen und landen auf der roten Meile der Stadt. Koks und Nutten? Nein. Nur mehr Wein muss her. Findet der Verkäufer nicht. Er sucht aber trotzdem eine halbe Ewigkeit nach einem Korkenzieher, um uns die Flasche zu öffnen. Vielleicht ist sie deswegen so teuer.

Während es langsam beginnt zu dämmern, lassen wir uns schließlich auf dem großen Marktplatz nieder. Die Cafés und Restaurants haben ihre Stühle stehenlassen. Der Platz ist menschenleer. Bald wird die Sonne aufgehen und wir verlieren uns in politischen Diskussionen. Drei Jungs torkeln an uns vorbei. Einer schreit laut. Sieg heil. Bleibt irritiert stehen. Schaut uns an. Schiebt etwas hinterher. Nein, nein. War nicht so gemeint. Deutschland ist schön, sagt er, und seine Augen leuchten dabei. Als die drei weiterzockeln, kuschele ich mich an ihn. Wir lauschen den verblassenden Geräuschen. Alle Worte sind nun verbraucht. Alle Gefühle in Worte verpackt und dem anderen geschenkt, sitzen wir schweigend dort und warten darauf, dass der Tag anbricht. 

Als allmählich das Leben auf den Marktplatz zurückkehrt, machen wir uns auf den Heimweg. Dabei pflücken wir Blumen, die wir uns erst in die Haare stecken und später wahllos in Briefkastenschlitze klemmen.

~.~
Als ich am nächsten Morgen aufwache, geht es mir schlecht. Nicht ausschließlich des Alkohols wegen. Der Zustand lässt sich eher mit emotionaler Überforderung beschreiben. Ich kämpfe gegen das Brennen in den Augen und fühle mich merkwürdig einsam und unvollkommen. Mir fehlt der Liebste so sehr… Ich setze mich in die Küche und trinke ein Glas Wasser. Aber mein Bauchgefühl wird nicht besser. Im Gegenteil. 

Nur kurze Zeit später wacht er auf. Völlig verschlafen und mit nackten Füßen tappt er in die Küche, seine blonden Haare stehen in alle Richtungen ab. Guten Morgen, lächelt er mich an, so ehrlich und glücklich, als gäbe es nichts schöneres, als ausgerechnet mich morgens in seiner Küche vorzufinden. Hast du gut geschlafen? murmelt er und fährt sich mit der Hand durch die verwuschelten Haare. Wie ein Stein! antworte ich mich und bemühe mich zu lächeln, obwohl mir eigentlich nicht danach ist. 

~.~

Das ist der Moment, in dem mir klar wird, was ich mir die ganze Zeit nicht eingestehen will. Nur für den Bruchteil einer Sekunde verliere ich mich in Gedanken. 

Ich sehe den Tag, an dem wir uns kennenlernen. Es ist der Sommer 2001, er trägt einen grässlichen grünen Strickpullover und wir sitzen zusammen mit einigen anderen Freunden auf einem staubigen Feldweg. Der erste Satz, den er zu mir sagt, ist unglaublich provokativ. Ohne einen Gedanken zu verschwenden gehe ich darauf ein. Wir finden sofort eine gemeinsame Ebene. Ganz intuitiv gehen wir eine Art Spiel miteinander ein, eines, das nur für uns durchschaubar ist. Beide wissen wir darum, dass wir mit dem Feuer spielen, gleichermaßen scheinen wir keine Wahl zu haben. Wir müssen einander nicht kennenlernen, um uns zu kennen, denn ganz instinktiv wissen wir um die Gefühle und Ängste des anderen. Tage und Wochen gehen ins Land, in denen wir nicht die Finger von einander lassen können. Beide versuchen wir mehrfach die Notbremse zu ziehen – für den anderen vollkommen durchschaubar zu sein, lehrt uns das fürchten. Zwar versuchen uns Skepsis und Misstrauen, dem anderen gegenüber, ein ums andere Mal ein Schnippchen zu schlagen, doch der Reiz, das Interesse am Gegenüber, überwiegt. Wenn wir einander nicht verletzen, um den anderen auf Distanz zu halten, spielen wir „Verstecken“ in Maisfeldern und brechen nachts in Schwimmbäder ein. Wir zeichnen zusammen, vermischen alle Farben, die wir haben, zu einem hässlichen, undefinierbaren Brei und versuchen, uns besser zu fühlen. Zusammen springen wir durch Pfützen, sehen Sonnenaufgänge an und staubsaugen den Rasen, um ihn von Glassplittern zerbrochener Bierflaschen zu befreien. Regelmäßig läuft er viele Kilometer, nur um mir eine gute Nacht zu wünschen. Manchmal bleibt er. Dann reden wir uns gegenseitig in den Schlaf und fühlen uns beim anderen Zuhause. Wenn wir einander nicht sehen, schreiben wir uns Briefe, Gedichte und Zitate. Ich sehe uns streiten und einander tagelang ignorieren, bis einer von uns beiden es nicht mehr aushält und auf den anderen zugeht. Zusammen mit einer Flasche Schnaps diskutieren wir Differenzen aus bis wir sie nicht mehr verstehen können und uns über der Frage verlieren, ob es sie jemals gab. Wir schauen in die Sterne, schmieden Pläne und gewöhnen uns an langsam an den Gedanken, für einander wichtig, fast notwendig zu sein. Manchmal erscheint es uns als wären wir nur gemeinsam vollkommen. Monate und Jahre belegen unsere Freundschaft und spulen sich vor meinem inneren Auge ab. Ich glaube nicht, dass es einen Menschen gibt, der mehr für mich getan hat als er. Er hat mich nicht nur mich selbst kennenlernen lassen, er hat mich herausgefordert und an meine Grenzen gebracht. Er hat mir gezeigt, was ich mir selbst wert sein sollte.

Ich weiß ganz genau, warum ich mich so sehr davor fürchte, ihn zu besuchen, ich muss es mir nur eingestehen. Jetzt, wo ich hier bin, an diesem Ort, an dem ich nur Ich sein darf, ohne irgendwelchen Ansprüchen gerecht werden zu müssen, kann ich ehrlich zu mir selbst sein und es in Worte fassen: Ich kann in seinen Augen, in seinem Blick lesen, wer ich einmal war. Nicht nur seine Wohnung trägt meine Handschrift, auch er selbst verkörpert einen Teil von mir. Er mag, in allem was er tut, extremer sein als ich – extremer als es für mich richtig wäre. Dennoch führt mir seine außergewöhnliche Art zu leben vor Augen, was meiner Welt fehlt: Es ist die Farbe. Der Stillstand ist es, der wieder einmal von mir Besitz ergriffen hat, der mich lähmt und unwohl fühlen lässt. Mir ist schlicht und einfach höllisch langweilig, ich bin unterfordert. Er erinnert mich daran, dass ich mehr vom Leben will als nur Routine, Alltag und Pflicht: Ich sehne mich nach dem, was für ihn selbstverständlich ist – Ich sehne mich nach Spontanität und neuen Erfahrungen, will jeden Tag als eine neue Möglichkeit zu begreifen und mir der Freiheit, Chancen nutzen zu können, bewusst sein. Ich will einfach … etwas erleben und meine Zeit nutzen. Dazu gehört es, albern sein zu dürfen und das innere Kind zu leben. Und das will vieles, nur nicht immer so fürchterlich ernst sein. Es will Kirschkerne weitspucken, Rolltreppen in falscher Richtung hinauflaufen und dabei anderen die Zunge raustrecken. Ich habe Lust, Ostereier zu Weihnachten verschenken, Zimmerwände zu bekritzeln, mit der Nase Kunstwerke zu malen und barfuß durch den Schnee zu springen. Selten erschien es mir erstrebenswerter, eine Armee von Schneeengel zu machen oder Schneemänner mit riesigen Möhren-Nasen bauen. Auf drei Schlitten gleichzeitig will ich Hänge hinunterfahren, mich mit Glühwein betrinken bis ich nur noch kichern kann und mitten auf der Straße tanze. Wann, in den vergangenen Jahren, habe ich vergessen, dass es einstmals mein größtes Ziel war, wenn ich groß bin, dass Monster unter dem Bett zu besiegen? Ist der Mann in meinem Ohr nicht einsam und würde die Gesellschaft einer Erbse zu schätzen wissen? Warum habe ich dieses Jahr nur daran gedacht, neben dem geschmückten Weihnachtsbaum einen Handstand machen und bin nicht einmal auf die Idee gekommen, es einfach zu tun? Wie werden meine Kommilitonen reagieren, wenn ich nach einer Klausur aus dem Vorlesungssaal stürme, hysterisch im Kreis renne und „Ente! Ente! Ente!“ rufe?

Es tut so gut, alle Ernsthaftigkeit einmal abzulegen, sich „kindisch“ und „unangemessen“ zu verhalten und einfach Spaß zu haben – ohne darauf zu achten, was andere Menschen davon halten. Ohne etwas zu tun, zeigt er mir, dass ich vergessen habe, wie wichtig es für mich ist, ab und an einmal die Contenance zu verlieren. All die schwerwiegenden, so ernsthaften Dinge des Lebens mal loszulassen und das Leben nur zu genießen. Niemandem – und am allerwenigsten mir selbst – ist geholfen, wenn ich mich ständig an eigenen und fremden Problemen aufreibe. 

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Ich koche mal Kaffee, ruft er fröhlich in mein verknotetes Gedanken-Wirrwarr hinein und holt mich damit abrupt in die Wirklichkeit zurück. Routiniert greift er, den auf der Küchenzeile stehenden Weinflaschen ausweichend, nach der Kaffeekanne. Er trägt nur seine Jeans, die roten Boxershorts blitzen hervor. Die Sonne taucht seinen Oberkörper in warmes Licht. Für mich ist es nur ein weiteres Mal, dass ich feststellen muss, dass er wunderschön ist. Früher habe ich ihn in solchen Momenten versucht zu malen. Es ist mir kein einziges Mal gelungen. 

Als er mir eine Tasse mit dampfenden Kaffee reicht, lächele ich ihn an. Vermutlich sehe ich reichlich grenzdebil aus, aber ich kann in diesem Moment einfach nicht damit aufhören. Je mehr Mühe ich mir gebe, nicht so total dämlich zu feixen, desto weniger habe ich meine Gesichtsmuskeln unter Kontrolle. Ich fühle mich mit einem Male völlig befreit, so belanglos die Erkenntnis, was genau ich in meinem Leben ändern muss, um mich besser zu fühlen, auch wirken mag. Für mich ist sie alles andere als das.

Was machen wir heute??? frage ich laut, beschwingt und voller Tatendrang. Mit einem Male komme ich mir gar nicht mehr so antriebslos, gelähmt und langweilig vor, wie ich mich in letzter Zeit oft gefühlt habe. Im Gegenteil, ich bin so motiviert, ich bin sicher, wenn ich wollte könnte ich ganze Bäume mit dem kleinen Finger ausreißen! Erstaunt blickt er auf, er sieht mir direkt in die Augen. Er bemerkt genau, dass sich etwas verändert hat. Ob er wohl erahnen kann, was es ist? Einige Sekunden, in denen er mich prüfend anschaut, verstreichen, bevor sich langsam ein breites Grinsen auf sein Gesicht stiehlt. Und dann? Dann lasse ich ihm gar keine Zeit dafür, etwas zu sagen. Denn ich muss ihn so arg drücken, dass die Rippen krachen. Einfach nur so. Weil ich die Zeit, die wir mit einander verbringen ausnutzen muss und einfach keine Worte dafür finden kann, wie unglaublich schön es ist, dass es ihn gibt!

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