Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Vom Mitgefühl

"Ich hatte ihnen die Formulare doch gegeben?", frage ich den alten Mann freundlich.
"Ja.", erwidert er und schaut zu Boden, "Aber ich habe sie nicht mehr.".
Irgendetwas stimmt nicht, denke ich. Ich sehe mir den weißhaarigen Herrn, der vor mir steht, genauer an. Sein blasses Gesicht ist von tiefen Falten durchzogen, die freundlichen, liebevollen Augen wandern unruhig im Zimmer umher. Dass er sich unwohl fühlt, steht überdeutlich im Raum.
"Das ist kein Problem.", sage ich sanft und muss kurz dem Impuls widerstehen, meine Hand auf die seine zu legen, "Ich gebe sie ihnen einfach nochmal.". Mit diesen Worten drehe ich mich um und krame in der Ablage nach den entsprechenden Dokumenten. Bemüht beiläufig hake ich leise nach.
"Haben sie die Formulare verloren? Das ist nicht schlimm, mir passiert das auch oft.", sage ich, zucke mit den Schultern und gebe dann umunwunden zu, "Ich bin ein bisschen unordentlich. Davon abgesehen überfordert mich dieser ganze Papierkram auch.".

Er reagiert nicht auf mich. Aus den Augenwinkeln heraus kann ich beobachten, dass der alte Mann konzentriert seine Schuhspitzen mustert.
"Na, ist ja auch egal.", wende ich schließlich ein, ziehe die gewünschten Dokumente hervor und reiche sie ihm über den Tresen.

"Ich habe sie aufgegessen.", sagt er, sieht plötzlich hoch und schaut mir direkt in die Augen.
"Bitte?", frage ich verwirrt. Es dauert einen Moment bis mir klar wird, dass er die Formulare meint. "Sie haben die Dokumente gegessen?", frage ich irritiert und erwidere seinen Blick.
Er sagt einfach nur: "Ja.".
Und: "Ich hatte Hunger. Das Arbeitsamt verweigert mir seit Wochen die Leistungen, ich bin krank, kann kaum noch aus dem Haus gehen, davon abgesehen, dass mir zum Einkaufen eh das Geld fehlt. Ich hatte einfach Hunger. Und dann hab ich sie gegessen. Die Formulare.".
Für einen Moment bin ich völlig überfordert.
"Und ich rede hier davon, dass mich der ganze Bürokratiemist überfordert...", sage ich leise. Ich spüre, wie ich langsam rot werde. Die Scham brennt sich durch mein Gesicht. Dicht gefolgt von Mitgefühl. Und unbändiger Wut.

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