Von Otto

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Es ist kurz vor Weihnachten, als ich dein Angebot, mich in deine Wohnung zurückzuziehen, um etwas Ruhe zu finden, das erste Mal wahrnehme. Ich finde den Ersatzschlüssel dort, wo du es mir gesagt hast, und öffne deine Wohnungstür. Bereits während des Eintretens verursache ich vermutlich, bepackt mit diversen Tüten, mehr Chaos, als diese Wohnung jemals gesehen hat. Kichernd knipse ich ein Foto davon und frage mich, wie du wohl gucken würdest, wenn du mich jetzt sehen könntest. Und ob du wirklich glaubst, ich würde Ruhe in deiner Wohnung suchen. Während du auf Arbeit fleißig bist, habe ich stattdessen die Pflanzenläden deiner Stadt abgeklappert. Es ist kaum zu glauben, aber es war gar nicht so leicht, ein kleines Weihnachtsbäumchen zu finden. Offenbar steht man in deiner Stadt auf kunstschneebedeckte Zypressen. Die mag ich nicht. Also: Zypressen sind schon ganz hübsch, aber der Kunstschnee ist eben unecht und fürchterlich kitschig. Nach mehreren Versuchen habe ich in der hintersten Ecke d

Von allerlei Gedanken

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Vor ein paar Monaten wurde ich unvermittelt in ein Personalgespräch geschupst, in dem ich mein Gehalt neu verhandeln sollte. Unvorbereitet ist das so gar nicht mein Ding. Ich bin gerne gut. Und gut bin ich dann, wenn ich vorbereitet bin. Im Gespräch werde ich einigermaßen überfahren. So fühle ich mich auch hinterher. Zwar bekomme ich ein Drittel der gewünschten Gehaltserhöhung, aber die restlichen zwei Drittel werden an eine recht utopische Zielvereinbarung geknüpft. So kommt es, dass ich ziemlich wütend, vor allem aber frustriert aus diesem Gespräch herausgehe. Kann es denn sein, dass man mir mehr und mehr Aufgaben mit der Begründung auflädt, dass ich meine Aufgaben gut erledige, andere sich aber einfach verweigern oder blöd stellen? Einige Wochen lang trage ich diesen Frust mit mir herum. Bis ich schließlich einem anderen Chef gegenüber platze und die Frage aus dem vorigen Satz laut stelle. Denn ich spüre das ich unter meinen Aufgaben mehr und mehr in die Knie gehe. Über eine 48 Stunden-Woche lache ich müde. Die toppe ich in der Regel. Und arbeite zum Teil in meiner Freizeit weiter, weil ich mich schwer damit tue, Verantwortung von mir zu weisen. Zum beruflichen Stress kommt dann noch meine Tätigkeit im Ehrenamt hinzu. Und den Rest der verbleibenden Zeit verbringe ich gerne mit Schlafen. Mein Sozialleben hat massiv nachgelassen. Das nenne ich eine gelungene work-life-balance.

Heute habe ich meine gewünschte Gehaltserhöhung bekommen.
Ohne die Zielvereinbarung zu erfüllen.
Um ehrlich zu sein, ist mir das Geld einigermaßen egal.
Wertschätzung ist es, was mich motiviert.
Ehrlich gefreut habe ich mich nicht.

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Mein Lieblingsmitarbeiter besucht mich im Büro, um sich zu verabschieden. Er hat einen neuen Job gefunden, bei dem er etwas mehr verdient. Und ich lasse ihn - natürlich - ziehen. "Ich gehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge.", sagt der kleine Mann lächelnd und hat Tränen in den Augen, als er mich ansieht. Ich lächle warm. "Ich werde dich auch vermissen.", antworte ich. Und versuche mich zusammenzureißen. "Komm.", fordere ich ihn auf, "Wir machen es kurz und schmerzhaft und verabschieden uns ganz schnell von einander. Sonst fange ich wirklich an zu weinen." Mit diesen Worten trete ich auf ihn zu und nehme ihn für ein paar Sekunden fest in den Arm. Als ich ihn loslasse, muss ich selbst die Tränen wegblinzeln. "Du bist hier immer willkommen. Pass gut auf dich auf.", sage ich. Winke ihm ein letztes Mal und gehe ganz schnell weg. Mein Herz ist furchtbar schwer.

Im Büro erinnere ich mich an all die Geschichten, die wir in den letzten Jahren miteinander erlebt haben. Daran, dass ich erst einmal lernen musste, wie man einem Analphabeten einen Arbeitsweg erklärt, den er mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestreiten soll. An sein schelmisches Lachen, als er mich gefragt hat, ob ich wirklich Petticoats trage und seine großen Augen, als ich ihm ein Foto davon zeigte. Seine lieben Worte zu meinem dementen Großvater. Seine Einsamkeit, die er manchmal mit mir geteilt hat. Ich erinnere mich daran, wie glücklich er reagiert hat, als ich ihn das erste Mal gefragt habe, wie es ihm geht. Da stand er vor mir, gerührt davon, dass sich jemand für ihn interessiert. "Ich habe doch niemanden außer meinem Vater.", hat er gesagt, "Und der braucht so viel Pflege, dass ich gar nicht mehr rauskomme. Ich sehe immer nur die gleichen Gesichter. Und bin so müde."
Jetzt hat sich sein Leben zum Guten gewandt. Denn er hat die berufliche Chance erhalten, die er verdient. Ich bin sicher, dass er sie nutzen wird.

Nur zur Sicherheit schreibe ich ihm das beste Arbeitszeugnis, das ich jemals verfasst habe. Nach der Arbeit hüpfe ich in den Supermarkt, kaufe auf private Rechnung allerlei Süßigkeiten und packe ihm ein kleines Abschiedspaket. Mit Dingen, die er sich sonst nie leistet. Weil er sich eigentlich immer nur für andere aufopfert und denen etwas gönnt. Zusammen mit seinem Arbeitszeugnis stelle ich ihm das Päckchen vor die Tür. Ich hoffe wirklich, dass er glücklich wird. Er wird mir furchtbar fehlen.

- 3 -

Abends fange ich an, mich ein bisschen selbst zu bezweifeln. Es ist ja so, dass ich grundsätzlich nach bestem Wissen und Gewissen handle, aber irgendwie wäre ich trotzdem gerne besser in dem, was ich tue. Im Job, im Ehrenamt, in Bekanntschaften, Freundschaften und familiären Dingen. Ich habe das Gefühl, nie alles gleichzeitig auf die Reihe zu bekommen und frage mich, wie andere Menschen das schaffen. Zudem spüre ich im Moment wieder intensiv, das ich hier Menschen vermisse, die sich mit mir auf einer Augenhöhe befinden. In meinem derzeitigen Umfeld wird viel gegen Menschen gestänkert, die studiert haben. Und ich verstehe nicht, warum den so ist: Immerhin stänkere ich auch nicht gegen Leute, die nicht studiert haben. Ich mag nicht mehr hören, dass Studenten Theoretiker sind, die sich in der Berufspraxis oft als untauglich herausstellen. Mir fehlen Diskussionen über soziale und politische Themen, die auf fundiertem Wissen gründen. Hitzige Auseinandersetzungen. Weg von Stammtischniveau und gefährlichem Halbwissen. Ich vermisse kluge Gedanken, Impulse von außen, neue Anreize, spannende Menschen, Tiefe. Der ganze oberflächliche Scheiß - diese Diskussionen über Männer, Lästereien über andere Menschen, Austausch über Status und Konsum - nervt mich massiv. In diese Welt passe ich nicht hinein. Manchmal habe ich das Gefühl, dieses eine Puzzlestück zu sein, dass einfach nicht in die Lücke passt, egal, wie oft man es dreht, wendet oder verbiegt. Vielleicht passe ich nirgendwohin.

Seltsam auch:
Meine beste Freundin versucht, mich mit drei Worten zu beschreiben. Dabei behauptet sie etwas merkwürdiges: Sie sagt, ich wäre der mutigste Mensch, den sie kennt. Dabei bin ich der größte Feigling auf dieser Welt. Ich verstehe nicht, wie unsere Ansichten so von einander abweichen können.
Zurzeit weiß ich nicht so recht, wer ich bin.

Kommentare

  1. Dann hat die Rakete zum Jahreswechsel wohl was gebracht! ;-)

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  2. Mich erinnerte Erhardt spontan an Dich "Weil er sich eigentlich immer nur für andere aufopfert und denen etwas gönnt."
    Und wenn Deine beste Freundin das über dich sagt, kannst Du es ruhig glauben, dafür sind beste Freundinnen nämlich auch da, dass sie einem etwas sagen, dass wahr ist und manchmal auch etwas unangenehm (weil es etwas positives ist)

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    1. Mmh. Ich habe ein bisschen über deinen Kommentar nachgedacht. Ich glaube, dass ich anderen sehr gerne etwas gönne. Das stimmt. Aber der Begriff "aufopfern" trifft, denke ich, nicht zu. Ein gesunder Egoismus - auf mich aufzupassen, mich nicht durch "geben" zu erschöpfen usw. - ist mir sehr wichtig. Aber es hat lange gedauert, mir diese Art von Egoismus anzueignen. Und ihn als richtig und wichtig zu empfinden. Ich muss allerdings zugeben, dass es mir nicht immer gelingt, in dieser Hinsicht auf mich aufzupassen bzw. ein gesundes Mittelmaß zwischen Geben und Nehmen zu finden.

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  3. Alles gleichzeitig. Das scheint nur so. Ich bin selbst mit Familie, Ehrenamt, Vorlesen, Vollzeitjob und den Gedanken dazwischen mehr als nur ausgelastet. Manchmal fragt mich jemand, wie ich das alles schaffe, erst recht damals, als ich noch darüber bloggte. Ich schaffe nicht gleichzeitig, sondern hintereinander, zwischendurch und durcheinander. Zeitmanagement hat man drauf oder man lernt es. Gezwungen oder intuitiv. Bei mir war es eine Mischung aus beidem, weil ich die dauerhaft Überlastung brauche, um nicht in Löcher zu fallen. Wegen der Gedanken dazwischen.

    Mutigste Frau. Als mutig wird häufig jemand bezeichnet, der Gefahren ignoriert oder sein Leben riskiert. Viel zu oft werden jedoch Menschen als mutig benannt, die etwas einfach nur tun, ohne die Gefahr zu kennen. Die sind nicht mutig, die sind normal. Erst wenn ich Angst habe und diese Angst überwinde, mich ihr entgegen stelle, dann bin ich mutig. Jemand ohne Angst ist nicht mutig, denn er braucht für sein Handeln keinen Mut. Insofern, auch wenn ich bislang still las: Passt schon. :)

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    1. Ich bewundere dich - und ich glaube dir absolut, dass du mit Familie, Ehrenamt, Vorlesen, Vollzeitjob usw. ausgelastet bist. Ich bin vermutlich mit weniger Komponenten in meinem Leben ausgelastet. Vielleicht sollte ich mein Zeitmanagement mal betrachten. Allerdings frage ich mich manchmal, ob ich nicht vielleicht mehr Pausen brauche als andere Menschen, um wieder zur Ruhe zu finden und mich zu erden.
      Auch ich bin jemand, der nicht zu viel Freizeit haben darf. Sonst fange ich an, alles zu zergrübeln. Die Löcher, die du erwähnst, kommen mir bekannt vor.

      Ich freue mich über deinen Kommentar.
      Hab vielen Dank für die lieben Worte.

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  4. Fremdwahrnehmung und Selbstwahrnehmung passen oft nicht zusammen.

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