Von der anderen Liebe

"Es geht nicht um mich.", sagt er, "Es geht um dich. Es geht immer nur um dich." Seine Arme legen sich um mich, fangen mich auf, er vergräbt flüsternd die Nase in meinem Haar. "Es geht um dich. Es geht um dich. Es geht um dich.", flüstert er und jedes einzelne Wort fühlt sich an, als würde es tief in mich hineinfallen und mich von innen auftauen. Ich glaube, es ging noch nie in meinem Leben um mich. Natürlich tut es das auch jetzt nicht. (Weil es um ihn geht. Ist doch klar.) Aber es tut mir so gut, dass da jemand ist, der mich sieht. Der ohne eine einzige Forderung zu stellen, da ist, mich lieb hat und annimmt, ohne mich ändern zu wollen. Der einfach dankbar nimmt, was ich zu geben habe, ohne mir im Anschluss den Arm auszureißen und mich zu mehr zu drängen als ich geben will. Jemand, der so ein großes Herz hat, so warmherzig, gütig und voller Liebe ist. Ja, vielleicht ist das alles nur eine Momentaufnahme. Vielleicht wird morgen schon alles ganz anders sei

Vom Versteck im Kleiderschrank

'Ja, aber glaben Sie denn wirklich, Herr Professor', fragte Peter, 'andere Welten sind überall zu finden, und einfach nur so um die Ecke herum?'
'Nichts ist wahrscheinlicher', antwortete der Professor. Er nahm seine Brille von der Nase und putzte sie sorgfältig. Dabei murmelte er: 'Ich frage mich wirklich, was sie ihnen eigentlich auf den Schulen beibringen.'

(C.S. Lewis: Die Chroniken von Narnia)


Zwei Jahre meines Lebens habe ich weitestgehend damit verbracht, so zu tun, als würde ich am Leben teilnehmen:
In Wahrheit öffne ich morgens, während das Haus bereits vom geschäftigen Treiben erfüllt ist und alle abgelenkt sind, ein Kellerfenster. Ich verabschiede von meinen Eltern, um zur Schule zu gehen. An den meisten Tagen hege ich sogar den ernsthaften Vorsatz wirklich hinzugehen. Aber meistens überwiegt die Angst, die Angst vor allem und vor allem vor all den Menschen. So dass meine Schritte, je näher ich der Schule komme, immer schwerer werden und mein Herz ganz schnell klopft. Wenn ich die Angst nicht mehr aushalte, kehre ich um. Erst nur sporadisch. Später täglich. Ich verstecke mich dann im Gebüsch, bis meine Eltern zur Arbeit aufbrechen, und klettere durch das Kellerfenster zurück ins Haus.
Dort verkrieche ich mich in dem dunklen Kleiderschrank, in dem der alte Pelzmantel meiner Uroma hängt. Zwischen all den Kissen, Decken und Büchern, die ich mit der Zeit hierher getragen habe, fühle ich mich geborgen und sicher. Während ich Seite um Seite lese, mit Hemingways alten Mann auf das Meer hinausfahre und gemeinsam mit Lord Henry Wotton und Basil Hallward Dorian Gray verfalle, beruhige ich mich. Die Zeit in meinem Schrank steht still. In manchen Momenten kann ich mir nicht einmal mehr vorstellen, dass außerhalb meines Kleiderschrankes überhaupt Leben existiert. Immer mehr ziehe ich mich in mich selbst zurück. Und träume. Einzig die Geräusche von der Straße, die ab und an von draußen zu mir hereindringen, erinnern mich daran, dass die Zeit in meinem Versteck begrenzt ist.
Mir ist bewusst, dass es irgendwann irgendjemandem auffallen wird, dass ich die Schule nicht mehr besuche. Ich weiß, dass ich eines Tages zurück in die Welt da draußen muss, die es mir so schwerfällt zu ertragen. Als überdurchschnittlich schüchternes und empfindsames Kind empfinde sie häufig als zu grob, zu laut und zu lieblos. Ich bin 12 Jahre alt. Und manchmal, wenn mich meine Ängste zum verzweifeln bringen, denke ich: "Wenn ich es nicht mehr aushalte, kann ich mich immer noch umbringen." Dieser Gedanke spendet mir Trost. Im Dunkel des Schrankes schüttle ich den Kopf. Versuche die Gedanken an den kommenden Tag aus mir herauszuschütteln. Es ist ja noch nicht Morgen. Und für heute bin ich sicher. Also greife ich neben mich, schlage ich ein neues Buch auf und vertiefe mich in die nächste Geschichte. Hier, in meinem Kleiderschrank, ist die Welt in Ordnung. Ich würde gerne für immer hier bleiben.

Kommentare

  1. "Wenn ich es nicht mehr aushalte, kann ich mich immer noch umbringen."
    gleicher satz, gleiches alter. nur dass ich mich nicht im kleiderschrank verstecken konnte, ich kletterte bei wind und wetter auf bäume, oder auf garagendächer. ziemlich hoch. wenn ich daran denke, dass ich heutzutage totale höhenangst habe....aber ich glaube, dass dieser satz mich am ende gerettet hat.

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    1. Mich auch. Der Satz hatte einfach etwas tröstliches, weil er einen Ausweg geboten hat, wenn es so schlimm war, dass ich das Gefühl hatte, es kaum zu ertragen.
      Obwohl ich gerne das innere Kind auslebe, Blödsinn mache und albern bin, bin ich ab und an froh, nicht mehr klein zu sein. Denn ich habe das Leben als kleiner Mensch als sehr viel komplizierter empfunden, als ich es heute tue.

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  2. So einen Kleiderschrank hätte ich heute immer noch gern. Mit den richtigen Büchern. Geht es Dir eigentlich auch so, dass die Bücher dich früher noch schneller in andere Welten bringen konnten? Es fällt mir heute schwerer solche Fluchtbücher zu finden.

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    1. Mir fehlt der Kleiderschrank auch ab und an. Es gibt ihn heute noch, aber das Gefühl ist irgendwie ein anderes...
      Ja, ich habe auch das Gefühl, dass mich Bücher als Kind schneller in andere Welten bringen konnten. Allerdings habe ich auch den Eindruck, dass früher Buchveröffentlichungen sorgfältiger ausgewählt wurden. Mittlerweile ist das Buch Massenware und es gibt unwahrscheinlich viel Schund, finde ich. (Klingt, als ob ich Rentner bin und davon erzähle, dass früher alles besser war. Nun ja...) Vor kurzem hatte ich ein Buch in der Hand, auf dessen Klappentext ein Rechtschreibfehler war. Und ich konnte es nicht kaufen, weil mich dieser Fehler genervt hat. Es spricht ja nicht unbedingt für ein Buch, wenn du schon Fehler auf dem Cover findest.
      (Vielleicht bin ich auch nur speziell. Und komisch. Gestern Abend ist mir aufgefallen, wie viele Fehler in meinen Blogposts sind. Hmpf. Also eigentlich sollte ich die Finger stillhalten, wenn es darum geht...)
      Hast du vielleicht eine Fluchtbuchempfehlung für mich?

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  3. So bedrückend der Post zunächst auch ist, hast Du vielleicht durch's Lesen mehr oder nützlicheres fürs Leben gelernt als in der Schule. Wobei Hemingway und Wilde für eine Zwölfjährige schon mehr als sportlich sind, wie ich finde. Ich hätte das in dem Alter nicht lesen können. Nun gut, heute auch nicht ;)

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    1. Um ehrlich zu sein, mir hätte etwas mehr Schule schon ganz gut getan: Mit Allgemeinwissen kann ich leider nicht gerade glänzen, weshalb ich gerne bei Brettspielabenden - die mich eh immer ein wenig gruseln - fluchtartig den Raum verlasse, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, Trivial Pursiut spielen zu müssen. Die Wahrheit ist leider, dass man das Wissen, was man als Kind nicht aufnimmt, nur schwerlich wieder nachholt. Oder dieser Satz dient mir lediglich als Ausrede für die Defizite innerhalb meiner Allgemeinbildung. Wer weiß.

      Meine Großeltern sind Lehrer. Sie haben mir die Liebe zur Sprache und zur Literatur relativ früh mitgegeben ("In der Schule lernst du lesen und du wirst es lieben!"). Früher habe ich alles an Büchern verschlungen, was zwischen meine Finger geriet. Heute ist das ein wenig anders. Ich neige zum "binch reading": Tagelang lese ich gar nicht, um mich dann wiederum im Zimmer zu verbarrikadieren und mir ein Buch nach dem anderen zu Gemüte zu führen.

      Eine Leseempfehlung von Dir würde mich übrigens interessieren...

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  4. In dieser Phase meines Lebens hat mir „Der Steppenwolf“ von Hermann Hesse das Leben gerettet. Ich stand bereits auf dem Dach eines Hochhauses. Hatte mein „Ade“ bereits deponiert und stand und stand – und musste dann lachen. Das Lachen der Unsterblichen. Seit diesem Tag bin ich wiedergeboren und der Gedanke mich umzubringen ist nur ein fernes Echo vergangener Zeit. Das Leben ernst zu nehmen ist doch echt komisch.

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    1. DAS nehme ich mit!

      Daraus mache ich mal was...danke für den Impuls!

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    2. "Der Steppenwolf" hat mich auch lange als Buch begleitet und eine Zeitlang vermutlich sehr geprägt. Ein tolles Buch. Auch wenn ich irgendwann das Gefühl hatte, aus diesem Buch rauszuwachsen... Es hatte seine Zeit.

      Ich liebe den letzten Satz deines Kommentares. Er ist wunderbar wahr.

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